Nach der Selbstenttarnung des NSU versprach die Politik schnell, Ermittlungsfehler aufzuklären. Zahlreiche Versäumnisse sind offenkundig: Ermittler*innen hatten Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund der Morde nicht verfolgt, fragwürdige Ermittlungsmethoden beim Einsatz von V-Leuten genutzt und die Angehörigen der Opfer drangsaliert. Besonders besorgniserregend ist weiterhin die Rolle der Ermittler*innen selbst. Als Halit Yozgat heute vor 16 Jahren in seinem Kasseler Internetcafé erschossen wurde, war er nicht allein. Anwesend war ein Verfassungsschützer, zuständig für die Beobachtung der rechtsextremen Szene. Dieser verstrickte sich bei anschließenden Vernehmungen in widersprüchliche Aussagen. Zu seinen Quellen durfte er außerdem wegen einer Dienstanweisung keine Angaben machen – Quellenschutz ging vor Aufklärung.
Sicherheitsinteressen machte das hessische Innenministerium auch geltend, als es die NSU-Akten für 30 Jahre sperrte. Dass sich jetzt die Innenministerin Nancy Faeser ebenfalls für eine Offenlegung aussprach, ist eine positive Entwicklung. Da sie kein Durchgriffsrecht hat, liegt die Entscheidung darüber aber weiter bei der hessischen Landesregierung. Dabei schloss der Untersuchungsausschuss in NRW explizit nicht aus, dass weitere Mitglieder des NSU existieren, und Correctiv-Recherchen zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten legen Verbindungen zum NSU und einem Fortbestehen des NSU Netzwerkes nahe.1 Die anhaltende Vertuschungspraxis ist gefährlich und nicht akzeptabel. Die Politik schuldet Angehörigen und Gesellschaft eine umfassende Aufklärung: Gab es weitere Täter*innen, hätten die Morde verhindert werden können und wer trägt die Verantwortung für die Versäumnisse?
Vieles zum NSU-Komplex wurde erst durch Medienrecherchen und auf Druck aus der Zivilgesellschaft aufgedeckt, während Behörden blockierten und Akten vernichteten. Hier ist vor allem das Tribunal NSU-Komplex auflösen zu nennen das 2017 unter dem Titel „Wir klagen an“ eine umfassende Auseinandersetzung mit dem NSU Komplex organisiert hat.
Hinzu kommt: In Hamburg, wo 2001 Süleyman Taşköprü vom NSU ermordet wurde, tagt weiterhin kein Untersuchungsausschuss. Die Bürgerschaft verließ sich stattdessen auf einen Selbstaufklärungsbericht der Sicherheitsbehörden – besonders zynisch, da die Aufklärung das Vertrauen in ebendiese Institutionen erst herstellen muss. All das widerspricht den Aufklärungsbekundungen von Politik und Behörden. Es muss endlich eine Kehrtwende geben – es geht um Menschenleben und das Vertrauen von Generationen.
Auch nach über 10 Jahren kommen die Sicherheitsbehörden der Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit nicht nach. Nach wie vor wird der Schutz von Ermittler*innen über das Aufklärungsinteresse zum NSU gestellt. Dies gilt umso mehr, als Behörden aus ihren Fehlern offenbar nichts gelernt haben. Dies zeigt sich bei den Drohbriefen des NSU 2.0: Die Briefe wurden an nicht-öffentliche Privatadressen versandt, die zuvor im Melderegister von der Frankfurter Polizei aufgerufen worden. Bei den Untersuchungen stieß der Staatsschutz auf eine Whatsapp-Gruppe der Polizei, in der rechtsextremes Gedankengut ausgetauscht wurde.3 Transparenz und Aufklärung sind also dringender denn je. Dazu müssen endlich alle relevanten Akten freigegeben und weitere Untersuchungsausschüsse, beispielsweise in Hamburg und Berlin, eingerichtet werden.
1 Correctiv, 14.1.2021: https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2021/01/14/luebcke-mord-kontakte-zu-nsu-umfeld-weitreichender-als-bisher-angenommen/
2 WDR, 3.4.2017: https://www1.wdr.de/archiv/nsu/nsu-trio-these-100.html
3 SZ, 28.10.2021: https://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-2-0-anklage-chronologie-1.5284173