Der Terroranschlag von Halle jährt sich zum zweiten Mal. Hat aus deiner Sicht in den vergangen zwei Jahren eine angemessene Aufarbeitung der Tat stattgefunden?
Nein. Halle ist zum Symbol des Versagens politischer Verantwortungsträger*innen und Sicherheitskräfte geworden. Und nicht nur der Tag des Attentats selbst sondern auch der Weg seiner Aufarbeitung ist von Skandalen gepflastert. Ob irritierende Aussagen vom Ministerpräsidenten und ehemaligen Innenminister, ob mangelndes Verständnis und Sensibilität gegenüber der jüdischen Religion in den Sicherheitsbehörden, oder ob Brieffreundschaft einer Polizistin mit dem Attentäter. Halle ist zum Synonym dafür geworden, wie Vertrauen abgebaut werden kann. Dabei sind Jüdinnen*Juden genauso wie alle, die in diesem Land bspw. Rassismus oder Queerfeindlichkeit erfahren, dringend darauf angewiesen, dass Politik und Sicherheitsbehörden sie schützen.
Ich halte es für extrem bedeutsam, wie Gruppen und Personen im Umfeld der Betroffenen von Halle die Erinnerung nicht nur aufrechterhalten, sondern daraus Kraft für die Gegenwart und ihren Aktivismus ziehen. Da gibt es das Projekt Base Berlin von Hillel Deutschland mit seinem Festival of Resilience. Die zugehörige Gedenkzeremonie ergriff bereits am ersten Jahrestag der Anschläge die Initiative, um auf Kontinuitäten des Rechtsterrorismus hinzuweisen und dabei nicht in Angst zu verharren, sondern aus der Erfahrung Kraft für starke Bündnisse gegen Antisemitismus und Rassismus zu ziehen. Auch die Arbeit von Naomi Henkel-Gümbel, Christina Feist und Talya Feldmann sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Sie und viele mehr zeigen, wie ein pluralistisches Gedenken funktionieren kann, aus dem die Beteiligten Resilienz schöpfen, um der anhaltenden Gefahr rechter und rechtsextremer Gewalt zu begegnen.
Die Gegenwart von Antisemitismus und Rassismus macht uns allerdings auch klar, dass es hier weiterhin oft an konsequentem politischem Willen wie auch an nachhaltigen Bündnissen mangelt. Ich glaube, dass viele Menschen in Deutschland verunsichert sind. Es gibt viel Misstrauen und darauf lassen sich nur schwer dauerhafte Bündnisse gründen. Dabei wäre es so wichtig, dass gerade die progressiven Kräfte mehr Vertrauen zueinander aufbauen und dann auch Widersprüche und Kritik aushalten.
Bei dem Attentäter von Halle ist offenkundig, dass er Antisemit und Rassist war. Wird diese Gleichzeitigkeit genug bedacht und beleuchtet?
Die Ereignisse von Halle und Hanau in ihrer schockierenden Nähe sind leider dazu geeignet, zu verdeutlichen: Antisemitismus, Rassismus und Misogynie sind in neurechten Verschwörungsideologien fest ineinander verschlungen, bilden einen Dreizack und dieser Umstand findet sich in der Beschreibung der Attentate der vergangenen Jahre kaum wieder.
Es gibt viel Aufmerksamkeit für die Täter, doch nur selten wird dabei wirklich verstanden, dass diese Gewalt gemeinsame Antworten erfordert. Halle wird meistens als antisemitisches Attentat beleuchtet, Hanau als rassistisches. Das verdeutlicht uns auch nochmal, mit welcher Unvereinbarkeit in der deutschen Gesellschaft über Antisemitismus und Rassismus gesprochen wird. Selbst dann, wenn es naheliegend ist. Dabei ist das nur ein Zeichen von Sprachunfähigkeit. Denn ebenso wenig wie über Rassismus gesprochen wird, den Jüdinnen*Juden erfahren können – z.B. anti-slawischer, anti-asiatischer und anti-Schwarzer Rassismus –, wird über Antisemitismus im Kontext rassistischer Gewalt gesprochen.
Dabei sagte der Attentäter von Halle aus, dass er Muslim*innen angreifen wollte, weil er sie für das Symptom und Jüdinnen*Juden, weil er sie für die Ursache einer vermeintlichen Verschwörung halte. Ich denke, dass die Unfähigkeit über diese Zusammenhänge zu sprechen auch damit zu tun hat, dass viele Menschen ein verkürztes oder gar kein Verständnis von Antisemitismus oder Rassismus haben. Häufig kommt es auch dazu, dass das eine unter das andere subsumiert wird. Die Motivation mag vielleicht nachvollziehbar sein, Leid ist immer ultimativ, aber diese Vorgehensweise hat zur Folge, dass beides einzeln und seine Überschneidungen nur unzureichend verstanden werden können.
Es muss das Ziel sein, beides in seiner Besonderheit verständlich zu machen, ohne dabei Leid zu relativieren. Dazu müssen wir eine Sprache entwickeln, dazu braucht es gesellschaftliche Rahmenbedingungen, in denen man ohne Angst verschieden sein kann und vor allem braucht es mutige Menschen, die bereit sind, aus dem Lärm und dem Getöse herauszutreten und fernab dessen für Differenzierung, Sachlichkeit und Allianzen zu werben, die Kritik aushalten.
Wie stehst du zu der Tatsache, dass Programm und die Wahlerfolge der rechtsextremen AfD so wenig empören, aber rechtsextreme Angriffe immer wieder einen “Schock” in der Öffentlichkeit auslösen? Passt das für dich zu zusammen?
Ich glaube, dass der Erfolg rechter Ideologien inzwischen in der öffentlichen Wahrnehmung sehr stark an Prozentpunkten für die AfD gemessen wird. Dass das allerdings ein unzureichender Indikator ist, wird verdrängt. Denn wir haben das Mobilisierungspotenzial gesehen, was die verschwörungsideologischen Demonstrationen auf die Straße gebracht haben, wir haben gesehen, wie viele Menschen in bestimmten Landstrichen bereit sind die AfD zu wählen und sie hier auch auf eine gefestigte Wähler*innenschaft zurückgreifen kann. Und selbst wenn die Zahlen der AfD mal stagnieren oder gar sinken, dann ist dieses Potenzial nicht einfach verschwunden. Zum Teil wird es von anderen Parteien abgerufen bzw. Politiker*innen, die der Überzeugung sind, dass sie durch die Verwendung rechter Codes und populistischer Aussagen angeblich Bürger*innen “zurückgewinnen” können. Zum Teil haben sich Menschen auch aus dem demokratischen Diskurs bereits gänzlich verabschiedet. Gerade das stellt auch eine große Gefahr dar. Weil es eben jene Menschen sind, die sich dann in kleineren Kreisen weiter radikalisieren.
Dass jeder antisemitische oder rassistische Übergriff immer wieder als “Überraschung”, als “schockierend” bezeichnet wird, dass behauptet wird, es sei nicht mit einem Anschlag in der Größenordnung von Halle zu rechnen gewesen, das zeigt uns doch, dass diese Gesellschaft immer noch die Tatsachen nicht wahrhaben will. Die Tatsache zum Beispiel, dass es sich um eine postnazistische und postkoloniale Gesellschaft handelt, in der Antisemitismus und Rassismus eine blutige Spur des Terrors hinterlassen haben, die bis in die Gegenwart reicht.
Es gab keine Stunde Null, es gab keinen Neuanfang, aber es gibt eine deutsche Gesellschaft, die jegliche Kontinuitäten verdrängen will. Und so lange sie das tut, wird es immer wieder dieses skandalöse Erstaunen geben. Denn die Kontinuitäten sind der Stachel im Fleisch für all jene, die sich eine unbeschwerte deutsche Identität wünschen. Doch deutsche Identität kann es niemals ohne die Geschichte der Shoa und die Geschichte des Kolonialismus geben.