Was sind deine Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen und die Zeit davor und danach?
Ich lebte damals als junger Student der Politikwissenschaften in Berlin und mit der Zeit machte ich mir immer weniger Illusionen über die deutsche Gesellschaft. Ich wuchs eigentlich mit dem Wunsch auf, anerkannter Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, und wollte – wie viele Menschen of Color – einfach wie selbstverständlich dazu gehören. Ich wollte Deutschland gerne haben und hier entspannt leben.
Aber das Pogrom gegen die vietnamesische Community in Rostock-Lichtenhagen geschah ja nicht im gesellschaftlichen und politischen Vakuum. Je nationalistischer der deutsche Wiedervereinigungsprozess eskalierte und je stärker die rassistischen Exzesse in den Parlamentsdebatten und die aufhetzende Medienberichterstattung über die angebliche „Asylantenflut“ wurden, desto wachsamer und politischer wurde ich. Ich habe in dieser Zeit soviel über die weiße deutsche Gesellschaft gelernt und hatte das Gefühl, erstmals hinter die Maske der liberal-bürgerlichen Idylle zu blicken. Was ich dann in Rostock-Lichtenhagen ungeschminkt sah, war ein rassistischer Abgrund, der blanke Horror, soviel massenhafter dumpfer Hass – gepaart mit dem selbstverliebten Selbstbild als aufgeklärte Nation der Dichter, Denker und Biertrinker. Die live im Fernsehen übertragenen Bilder von dem brennenden Sonnenblumenhaus, das tagelang wie bei einer mittelalterlichen Belagerung sturmreif angegriffen wurde, waren einfach unfassbar: Es sprengte alles, was ich mir bis dahin vorstellen konnte im modernen, angeblich so zivilisierten und demokratisch-rechtsstaatlichen Deutschland. Rostock-Lichtenhagen war für mich ein erneuter Zivilisationsbruch. Meine Gefühle waren eine bizarre und widersprüchliche Mischung aus absolutem Unglauben, Entsetzen, Abscheu, Wut, Trauer, Hilfslosigkeit und Trotz. In der unmittelbaren Situation wusste ich mir nicht besser zu helfen, als einen Leserbrief an die taz zu schreiben.
Was ich aber in diesen Jahren ebenfalls erlebte und was mich bis heute prägt, war die Erfahrung in migrantischen, antirassistischen Zirkeln von People of Color, dass selbstorganisierter Widerstand möglich ist, dass wir solidarische Strukturen aufbauen können und trotz unserer beschränkten Mittel nicht wehrlos sind.
Haben die rassistischen Angriffe von Rostock-Lichtenhagen dich und deine Familie geprägt?
Die Bilder des Pogroms, das Wissen wie der Staat und seine Institutionen darauf reagierte, bzw. eher nicht reagierte, haben mein Deutschlandbild grundsätzlich in Frage gestellt. Bereits zu wissen, dass Rostock-Lichtenhagen möglich war und ein neues rassistisches Pogrom jederzeit und überall in Deutschland möglich ist, veränderte die Art und Weise, wie ich mich in Deutschland bewege, fühle und lebe. Ich stellte mir Fragen und schlug mich mit Unsicherheiten und Zweifeln herum, die ich früher nicht hatte. Wo war es noch sicher, wohin konnte ich gehen und wenn ja, wann? Ich machte mir natürlich auch Sorgen um meine Familie und Freund*innen, weil es ja offensichtlich war, dass die rassistische Gewalt allgegenwärtig ist und wir jederzeit damit rechnen müssen.
Welches Bild von der Polizei hat sich damals für dich ergeben?
Rostock-Lichtenhagen war möglich, weil die regierende politische Elite und eine Vielzahl der demokratisch gewählten Volksvertreter*innen nicht nur komplett versagten, sondern ihre diskriminierenden und unbarmherzigen Attacken gegen das Grundrecht auf Asyl einen rassistischen Flächenbrand entzündeten. Die Polizei, wie viele anderen staatlichen Institutionen, gab während des Pogroms ein jämmerliches Bild ab, weil sie so offensichtlich hilflos, orientierungslos und kopflos agierte und ihre komplette Überforderung die rassistische Gewalt nicht nur zuließ, sondern auch befeuerte. Trotz wiederholten Anforderungen wurden die Einsatzkräfte vom zuständigen Innenministerium mit viel zu wenig Personal ausgestattet und es gibt ernstzunehmende Indizien, dass chaotische Zustände durchaus ins politische Kalkül passten, um den parlamentarischen Restwiderstand gegen eine de facto Abschaffung des Asylgrundrechts in der Verfassung zu brechen.
Gegenwärtig wird das Thema Polizeigewalt und Racial Profiling diskutiert. Was ist dein Wunsch an die Politik und die Polizei heute?
Wir brauchen wissenschaftliche Studien über das Ausmaß von Racial Profiling, nicht nur in der Polizeiarbeit, sondern in allen staatlichen Institutionen und Verwaltungen.
Wie Polizist*innen treffen auch Mitarbeiter*innen in Behörden wie der Arbeitsagentur oder dem Bundesamt für Migration und Integration Entscheidungen, die das Leben von Menschen of Color und Geflüchteten massiv beeinflussen. Daher müssen wir sicherstellen oder zumindest alle erdenklichen Mittel einsetzen, den Einfluss von rassistischen Diskriminierungen und Vorurteilen in der öffentlichen Daseinsfürsorge möglichst auszuschließen oder mindestens zu minimieren. Dass aber bereits die Zweckmäßigkeit und Legitimität solcher Studien vom Bundesinnenministerium irrationalerweise verneint wird, beweist nur erneut, dass institutioneller Rassismus real existiert. Solche Studien wären auch sinnvoll, um bereits laufende Maßnahmen wie Antidiskriminierungstraining und Vermittlung von Diversitätskompetenz zielgerichteter und effektiver zu machen. Auch muss unverzüglich eine wirklich unparteiische Instanz mit weitreichenden Befugnissen eingerichtet werden, um Beschwerden gegen Polizeiübergriffe und Racial Profiling effektiv aufzuklären und ggf. strafrechtliche Konsequenzen einzuleiten. Es macht absolut keinen Sinn, so weiterzumachen wie bisher, da die Polizei solche Ermittlungen selbst kontrolliert. Daher müsste die Arbeit einer neu einzurichtenden Ermittlungsinstanz, nach dem Beispiel des Rundfunkrats der öffentlich-rechtlichen Medien, von einem Gremium kontrolliert werden, in dem zivilgesellschaftliche Akteure wie Gewerkschaften, Kirchen, Frauenverbände und natürlich auch Migrant*innenselbstorganisationen paritätisch vertreten sind.
Wie hast du die damalige mediale Berichterstattung erlebt? Wie schätzt du die mediale Berichterstattung in Bezug auf rassistische Gewalt heute ein? Hat sich aus deiner Sicht etwas verändert?
Wie wissenschaftliche Fallstudien belegen, war die mediale Berichterstattung in den 1990er Jahren in diesem Diskursfeld nicht nur defizitär und einseitig, sondern zum Teil auch vorurteilsbelastet und diskriminierungsfördernd, sodass diese Epoche auch branchenintern nicht als Ruhmesblatt in Erinnerung geblieben ist. Verglichen mit diesem journalistischen Tiefstand sieht die mediale Berichterstattung heute zum Teil besser aus, aber um wirklich belastbare und differenzierte Aussagen zu machen, müssten wir immer fall- und auch immer kontextabhängig analysieren. Dass es partielle Lernprozesse in den deutschen Redaktionen gegeben hat, liegt auch an der Kritik von postmigrantischen Initiativen wie den Neuen Deutschen Medienmacher*innen. Auch die vielfältigen Gegennarrationen etwa von People of Color-Initiativen und antirassistischen Organisationen, aber auch von Einzelpersonen in den unterschiedlichsten Formaten im Internet spielen eine Rolle, da sie das Informationsmonopol der etablierten Medienhäusern aufbrechen. Im asiatisch-diasporischen Kontext in Deutschland sind mit Organisationen wie korientation – Netzwerk für asiatisch-deutsche Perspektiven auch neue Strukturen entstanden, die eine Plattform für kultur- und medienkritische Arbeit etwa zum aktuell virulenten Corona-Rassismus gegen asiatisch markierte Menschen bildet.
Wie sollte die Gesellschaft mit den rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen umgehen? Gibt es irgendetwas Positives, dass du hervorheben möchtest? Was forderst du?
In Zeiten, wo kulturelle Dekolonialisierung und die breitere Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus auf der Tagesagenda stehen, wäre es für alle an der Zeit, zur Kenntnis zu nehmen, wie sträflich unverantwortlich und vernachlässigend die offizielle Erinnerungskultur mit dem Gedenken an Rostock-Lichtenhagen immer noch umgeht. Es ist ein böser Witz, wenn Medien und staatliche Repräsentant*innen 2012 zum 20. Jahrestag erstmalig ein wahrnehmbares offizielles Gedenken inszenieren, wo Vertreter*innen der lokalen vietnamesischen Community erst im letzten Moment herbei gekarrt werden, um dann gänzlich stumm als schmückendes Beiwerk zu fungieren. So verkommt das leere und diskriminatorische Gedenken, wo die Betroffenen nicht mal in die Vorbereitungsarbeit einbezogen werden, zu einem bloß symbolischen Ritual der politischen Entlastung. Damit wird politische Verantwortung nicht übernommen, sondern abgeführt mit dem Verweis „Wir haben was gemacht“. Statt auf den 30. Jahrestag zu warten, müsste das Gedenken in Form einer Bildungs- und Erinnerungsarbeit erfolgen, die kontinuierlich über die historisch-kulturellen Voraussetzungen, den konkreten Tatablauf sowie die politischen und gesellschaftlichen Kurz- und Langzeitfolgen des größten Pogroms seit 1945 in Deutschland aufklärt. Das kann nur eine museale Institution mit Dauerausstellung, begleitenden Seminaren und Diskussionen zu verwandten Themen wie etwa struktureller Rassismus in der offiziellen Erinnerungskultur leisten: Warum gibt es auch nach 40 Jahren immer noch keinen einzigen offiziellen Gedenkort oder Straßennamen für Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu, die am 22.8.1980 in Hamburg von organisierten Rechtsextremist*innen ermordet wurden? Sie gelten als die ersten gerichtlich dokumentierten, rassistischen Mordopfer in der BRD seit 1945. Um mit einer positiven Nachricht zu schließen: Erstmalig wird Ende August 2020 die aus Privatpersonen bestehende „Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân“ auf dem Hamburger Friedhof Öjendorf ein Gedenkstein einweihen, da ihre Gräber dort bereits aufgelöst wurden.
Vielen Dank für das Gespräch!
(Kate Dehn)