Stay uncomfortable, fight on!

Eine Denkschrift über kämpferische, mutige jüdische Stimmen in aktuellen gesellschafts-politischen Auseinandersetzungen

Jede neue laute und öffentliche jüdische Stimme ist ein “Fuck You” in das Gesicht deutscher Erinnerungsabwehr und des fortwährenden Antisemitismus. Deshalb möchte ich in diesem Text über mutige Jüdinnen:Juden schreiben, die sich im medialen deutschen Diskurs selbst behaupten.

Viele meiner Wortbeiträge kritisieren die gegenwärtigen Zustände in diesem Land und seiner postnazistischen Gesellschaft. Die Kritik betrifft meistens die Unsichtbarkeit queerer Jüdinnen:Juden, den Mangel einer gemeinsamen Sprache im Kampf gegen jeden Antisemitismus und Rassismus und das, was in Deutschland als ‘Erinnerungskultur’ bezeichnet wird. So ein Beitrag ist das hier nicht!

Denn während ich in den vergangenen Jahren nicht müde wurde zu fordern, dass widerständige Jüdinnen:Juden mehr Raum, mehr Sichtbarkeit und schlussendlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, durchbrachen viele von ihnen selbstständig die bleierne Decke der Unsichtbarkeit. Sie behaupteten sich gegenüber den Erwartungen, die in dieser Gesellschaft, immer wieder an sie gerichtet werden. Erwartungen, die am 27. Januar besonders spürbar sind und sich für viele besonders reißend anführen. Es sind bedrückende Tage, in denen für viele Jüdinnen:Juden in dieser Gesellschaft die (An-) Spannungen spürbar werden. Die Erwartung, Teil der Erinnerungskultur zu sein, die sich nach nichtjüdischen Perspektiven und Bedürfnissen ausrichtet, trifft auf das eigene Bewusstsein, dass wenn Jüdinnen:Juden nicht erinnern, jüdische Erfahrungen kaum vorkommen. Und gleichermaßen werden die Erfahrungen und Erinnerungen daran, dass Familie und Freund:innen verfolgt und ermordet wurden, für viele Jüdinnen:Juden in diesen Tagen besonders getriggert. Denn die Berichte über die Geschehnisse sind dann omnipräsent – in den Medien, in öffentlichen Debatten oder im Parlament. Im Land der Täter:innen gibt es für Antisemitismus und die Erinnerung an die Shoa keine Triggerwarnung.

Mindestens genauso wichtig wie die Kritik deutscher Zustände sollte ein Bewusstsein für die Verschiebungen sein, die sich im Status Quo ergeben haben. Und bevor die deutsche Gesellschaft jetzt sich selbst und ihrem Jubiläumsjahr 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland stolz auf die Schulter klopft: Das ist nicht Euer Erfolg! Auch nicht, wenn man es pandemiebedingt in die Verlängerung bis Mitte 2022 schickt.

Die vielen mutigen, kämpferischen Jüdinnen:Juden greifen nicht wegen, sondern trotz der “Bemühungen” um jüdisches Leben dieser Gesellschaft in die Diskurse ein. Neben den herausragenden Leuchtturmprojekten, die sich tatsächlich mit der Lebenswirklichkeit von Jüdinnen:Juden auseinander gesetzt haben, finden auch im “Festjahr” etliche Veranstaltungen statt, denen eine unausgesprochen Wahrheit zu eigen ist. Sie halten die Erwartungshaltung aufrecht, dass die heute lebenden Jüdinnen:Juden zu den Stellvertreter:innen derjenigen werden, die von nichtjüdischen Deutschen vor gerade einmal zwei Generationen ermordet wurden. Jüdisches Leben wurde häufig auf stereotype Zuschreibungen verengt. Sichtbar wurden strenge Religiösität, fideles Klezmer-Musikant:innentum oder schwermütige Intellektualität. Aktuelle jüdische Lebenswirklichkeiten, die nicht diesen Stereotypen entsprechen, finden dabei nur wenig Raum. Die Autorin Katja Sigutina hat erst vor Kurzem in einer bemerkenswerten Kritik das Festjahr in seine Schranken gewiesen.

Die Erwartungen sind Ausdruck des Bedürfnisses, aus der Diskontinuität jüdischen Lebens eine Kontinuität zu machen. Also den durch Raub, Vertreibung und industriellen Massenmord zerschnittenen Faden jüdischen Lebens einfach wieder zusammenzusetzen und somit die Krämpfe und Widersprüche deutsch-nationaler Identitätsfindung zu heilen. Doch so wenig, wie die Ermordeten aus ihren nicht-vorhandenen Gräbern entsteigen können, so wenig wird es eine deutsch-nationale Identität ohne die Erinnerung an Auschwitz geben. Diese schmerzhafte Tatsache wird mit Hilfe der an Jüdinnen:Juden gerichteten Erwartung verdrängt.

Das in der Gegenwart immer wieder auftretende Staunen und der damit verbundene Schock über antisemitische Vorfälle dokumentiert (im Jahr 2020 waren es laut RIAS knapp 2.000), dass sich die deutsche Gesellschaft vor allem dann mit Jüdinnen:Juden beschäftigt, wenn es der Bestätigung des eigenen Selbstbildes dient. Dem Selbstbild einer geläuterten und gebesserten Nation, die mit Fug und Recht wieder unter den Mächtigen und Großen der Weltgemeinschaft wandelt. Die größte Hürde für dieses Selbstbild ist die historische Tatsache, ein Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes begangen zu haben – den industriellen Mord von Jüdinnen:Juden –, wie auch einen Zweiten Weltkrieg entzündet zu haben, der Millionen Tote und Vertriebene zur Folge hatte. Der Schock bzw. das Erstaunen, dass Antisemitismus nach wie vor existiert, zeigt wie verhärtet die eigene  Selbstwahrnehmung ist. Man ist erstaunt, dass der antisemitische Terror doch nicht einfach geendet hat, weil man den eigenen Lügen so sehr glauben schenkt, weil man davon überzeugt ist, dass es tatsächlich die vermeintliche “Stunde Null” gegeben habe. Die Uhren wurden zurückgedreht, Verantwortung getilgt.

Umso bedeutsamer ist es, dass so viele (junge) jüdische Stimmen gegen die fortwährenden Fremdzuschreibungen aufbegehren. Sie sind laut, sie sind widerständig, sie sind verschieden. Sie finden ihre eigene Sprache und sind vereint durch die Tatsache, dass sie, indem sie lebendiges jüdisches Leben dem zurichtenden Blick deutscher Narrative entgegenhalten, sich an diesem zuweilen gegenüber jüdischem Leben feindlich gesonnenen Ort selbst behaupten. Nicht mit jeder Aussage, nicht mit jeder Haltung, nicht mit jeder Positionierung in dieser Vielstimmigkeit stimme ich überein, doch den Mut, den es angesichts postnazistischer Tatsachen braucht, um sich überhaupt zu Wort zu melden, bewundere ich.

Beeindruckend ist das, weil sich diese Stimmen ihren Raum erkämpfen – trotz des immer offener zutage tretenden Antisemitismus, trotz des unverhohlenen deutschen Nationalismus, der sich spätestens seit der ‘Wiedervereinigung’ ungezügelt seine Bahnen sucht, trotz alltäglicher Anfeindungen, Diskriminierung und Gewalt, trotz des vernichtungswilligen Terrors von Rechtsextremist:innen und antisemitischer Islamist:innen, trotz der Ausgrenzung, die viele Jüdinnen:Juden in Zusammenschlüssen erlebt haben, die sich selbst als progressiv, antirassistisch, intersektional und/oder queer bezeichnen. Die Ausgrenzung in diesen Räumen schmerzt, denn in ihnen erwartet man doch Unterstützung. Es gibt gerade einmal 100.000 bis 250.000 Jüdinnen:Juden in Deutschland. Ohne Bündnisse ist weder der Kampf gegen Antisemitismus noch gegen Rassismus zu gewinnen. Judith Coffey und Vivien Laumann beschreiben in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Gojnormativität“, wie die Ausschlüsse von Jüdinnen:Juden entstehen und wie sie überwunden werden könnten.

Anders als vielleicht zu vermuten ist, schafft die Drangsal der postnazistischen deutschen Normalität es nicht, diese Stimmen verstummen zu lassen. Das Fundament ihrer Kämpfe sind auch die Arbeit jüdischer Institutionen und Einzelpersonen der vergangenen 70 Jahre. Sie haben in den unterschiedlichsten Räumen einen Platz dafür erkämpft, dass nun junge jüdische Stimmen in ihre Fußstapfen treten und ein Glied der Kette jüdischer Emanzipationskämpfe werden können. Sie stehen in einer Traditionslinie jüdischer Selbstbehauptung, die ihnen den Weg geebnet hat. Ohne sie wäre wahrscheinlich auch nicht die Errichtung von Denkräumen in den vergangenen 20 Jahren möglich gewesen, die wiederum Anteil an der heutigen Pluralität jüdischer Stimmen hat.

Und wenn ich von Pluralität spreche, dann meine ich nicht nur die bekanntesten Personen des verlängerten Jubiläumsjahres. Zu denen zählten in Kunst- und Kulturleben wahrscheinlich die Schriftstellerin Mirna Funk und der Publizist und Lyriker Max Czollek, oder auch der großartige Regisseur Arkadij Khaet, dessen Film Mazel Tov Cocktail rechtzeitig zum Jubiläumsjahr gemeinsam mit Daniel Donskoys Late Night Talk Freitag Nacht Jews die deutsche Fernsehlandschaft aufräumte. Ich meine auch all die mutigen, unbequemen, kämpferischen jüdischen Stimmen, die nicht locker ließen. Durch ihre Perspektiven haben sie aufgezeigt, wie intensiv Jüdinnen:Juden daran beteiligt sind, diese Gesellschaft zu einem Ort zu machen, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.

Es war der Judaist, Historiker und Namensgeber der jüdischen Studienstiftung, Ernst Ludwig Ehrlich, der deutlich formulierte: “Wir haben bisher eine Vielfalt jüdischer Strömungen kennen gelernt, und es wurde deutlich, dass das Judentum ein pluralistisches Phänomen darstellt. […]. Der jüdische Chor hat viele Stimmen. Einen Juden stört diese scheinbare Disharmonie wenig.”1 Und auch wenn ich es nicht in der Vollumfänglichkeit darstellen kann, die angemessen wäre, möchte ich doch einen kleinen Einblick geben, wie viele Stimmen es gab. Einige habe ich bereits in den vorangegangen Zeilen bereits genannt. Alle zu nennen würde den Umfang dieses Textes sprengen. Und dennoch möchte ich einige, wenige hier aufführen, um meine Beschreibungen zu verdeutlichen. Ich hatte das große Glück, viele von ihnen persönlich kennenzulernen. In Gesprächen durfte ich neue Perspektiven erfahren und mein eigenes Weltbild immer wieder hinterfragen. Dazu gehören u.a.:

  • Lea Wohl von Haselberg, welche als Medienwissenschaftlerin mit ihren Analysen die Repräsentation von Jüdinnen:Juden in der deutschen Filmlandschaft als auch die Pluralität jüdischer Stimmen und die vorhandenen Leerstellen mit smartem Scharfsinn darstellt;
  • Miriam Yosef und Ina Holev, die mit ihrem Bildungsprojekt jewish intersectional sich für die Integration von Antisemitismuskritik und jüdischer Perspektiven in das Konzept der Intersektionalität stark machten;
  • Vivien Laumann und Judith Coffey, die mit ihrem Buch “Gojnormativität” jüdische Positionen in progressiven Bewegungen sichtbar machen und ein neues Sprechen über Antisemitismus etablieren;
  • Helene Braun, die als Rabbinatsstudentin darüber spricht und schreibt, wie sich Queerness und Feminismus aus der Perspektive religiösen Judentums artikulieren lassen;
  • Laura Cazés, die durch ihr virtuoses Spiel mit Sprache es geschafft hat, einer jungen Generation von Jüdinnen:Juden nicht nur die Kraft zu geben, die eigene Stimme zu erheben, sondern auch zu einer der wichtigsten Sprecherinnen dieser Generation geworden ist und die durch ihr politisches und institutionelles Wirken substanzielle Impulse zur Transformation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland beigetragen hat;
  • Marina Chernivsky, Psychologin, Gründerin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment und der Beratungsstelle OFEK schafft es nicht nur regelmäßig durch ihre intellektuellen Beiträge fachliche Debatten zu bewegen, sondern sie eröffnet Räume, in denen wissenschaftliche und politische Positionen, Betroffenen- und Expert:innenperspektiven aufeinandertreffen und Menschen miteinander, statt aneinander vorbeisprechen;
  • Meron Mendel, der als Leiter der Bildungsstätte Anne Frank versucht Brücken im gemeinsamen Sprechen über Antisemitismus und Rassismus zu bauen und Räume für gemeinsame Erfahrung als auch Sensibilisierung der Gesellschaft für rassistische und antisemitische Gewalt hervorbringt;
  • Ruben Gerczikow, der durch seine pointierten Beobachtungen und Analysen von Verschwörungsideolog:innen, bundespolitischen Entwicklungen als auch der extremen Rechten eine jüdische Stimme in diesem Diskurs positionierte;
  • Ronen Steinke, der nicht nur durch seine kritische Darstellung von Leben und Wirken des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer eine kritische Würdigung geschaffen hat, die diesen dem Schleier der Geschichte entzog, oder durch sein journalistisches Schaffen die Zeitungslandschaft um wichtige Analysen ergänzt, hat er auch mit seinem Buch Terror gegen Juden eine umfassende Analyse der Kontinuität antisemitischer Gewalt in Deutschland vorgelegt;
  • Anastassia Pletoukhina, die durch ihr Handeln jüdische Initiativen im gesamten Land unterstützt und damit Jüdinnen:Juden im unterschiedlichsten Alter die Chance gibt, sicht- und hörbar zu werden und die gemeinsam mit
  • Naomi Henkel-Gümbel und vielen weiteren Stimmen, wie u.a. auch Talya Feldman, Rebecca Blady oder Jeremy Borovitz oder Christina Feist, als Überlebende des Attentats von Halle in die Öffentlichkeit traten, den Prozess gegen den Attentäter kritisch begleiteten und für die Wahrnehmung der politischen Dimension dieser Tat stritten und die durch ihr Wirken Impulse für neue Allianzen und Bündnisse geben.

Hinsichtlich der gerade vorgetragenen Tatsachen der deutschen Gesellschaft bleibt mir an dieser Stelle nur eines zu sagen: Danke für Euren Einsatz! Danke für Euren Mut! Danke für die Meinungsverschiedenheiten! Danke für Euer tägliches Ringen für eine gerechtere Gesellschaft. Ihr seid die Matzeknödel in der Suppe der gemütlichen Verdrängung deutschnationaler Wiedergutwerdung. Stay uncomfortable, fight on!

 

1 Ehrlich, Ernst Ludwig: „Pluralismus im Judentum“, in: Homolka, Walter und Tobias Barniske (Hrsg.): Von Hiob zu Horkheimer: gesammelte Schriften zum Judentum und seiner Umwelt, Berlin / New York: Walter de Gruyter 2009, S. 217–230, hier S. 228.

 

Der Publizist Monty Ott promoviert zu »Queerem Judentum in Deutschland«, und war bis 2021 Gründungsvorsitzender der queer-jüdischen Initiative Keshet Deutschland e.V.. Meinungsstark bezieht er regelmäßig Stellung zu Antisemitismus, Queerness und Erinnerungskultur.
Außerdem ist er Teil des jüdischen Medienprojektes Laumer Lounge.