“Sie wurde nicht wegen ihres Kopftuchs ermordet, sondern wegen antimuslimischem Rassismus.” Im Gespräch mit Melina Borčak

Vor 13 Jahren wurde Marwa El-Sherbini ermordet, seit einigen Jahren wird deswegen am 1. Juli dem Tag gegen antimuslimischen Rassismus gedacht. Ebenfalls im Juli, am 11.7., wird der Opfer des Genozids in Bosnien gedacht. Wir haben mit der Journalistin Melina Borčak über die Verbindung verschiedener Formen von antimuslimischen Rassismus gesprochen.

Portrait Melina Borčak

Heute jährt sich der Mord an Marwa el-Sherbini. Während sie bei einer Gerichtsverhandlung gegen den Täter aussagen wollte, der sie zuvor unter anderem als „Islamistin“ beschimpft hatte, erstoch dieser die schwangere Frau. Welche Rolle spielte der Mord an Marwa el-Sherbini für Deutschland?

Ich glaub für Deutschland insgesamt spielte er leider gar keine große Rolle. Also er spielte eine große Rolle für die muslimische Community in Deutschland. Aber für das Land an sich habe ich nicht gemerkt, dass sich etwas bewegt oder verändert dadurch, oder dass es überhaupt viel Bewusstsein zur Tat und zu ihrem antimuslimischen Hintergrund gibt. Man könnte durch jede beliebige Fußgängerzone laufen und Leute danach fragen, die meisten werden nicht wissen was an diesem Tag 2009 passiert ist.

 

Was ist denn gescheitert bei der Aufarbeitung oder bei der Erinnerung an den Mord?

Es ist leider das übliche geschehen: Polizei, Medien, Politik haben ihre Arbeit nicht gemacht, die daraus bestünde den antimuslimischen Hintergrund der Tat aufzuarbeiten und ihr etwas entgegenzusetzen. In den Medien zum Beispiel wurde es ganz schnell vergessen, und auch heute wird nicht viel darüber berichtet. Und wenn berichtet wird, dann mit Formulierungen wie: Sie wurde wegen ihres Kopftuchs ermordet. Nein! Sie wurde nicht wegen ihres Kopftuchs ermordet, sondern wegen antimuslimischem Rassismus. Es gibt Millionen Frauen mit Kopftuch, die noch leben. Solche Formulierungen machen den antimuslimischen Rassismus bewusst oder unbewusst unsichtbar. Und das verdreht auch Täter und Opfer, wenn die Ursache der Tat mit dem Kopftuch des Opfers und nicht mit dem Weltbild des Täters erklärt wird.

 

Neben dem Mord an Marwa el-Sherbini jährt sich im Juli ein zweiter wichtiger Jahrestag:  Der Völkermord in Srebrenica am 11. Juli. Was verbindet diese beiden Tage?

Diese beiden Tage verbindet antimuslimischer Rassismus. Das allein ist ein Problem in Deutschland, dass nämlich nicht anerkannt wird, dass selbst ein antimuslimischer Genozid auch antimuslimisch rassistisch ist. Deshalb freue ich mich, wenn ihr das erkennt und diese zwei zusammendenkt, denn wir müssen es zusammen denken. Rassismus ist eine Art Brandbeschleuniger für Genozide, und so wirkte auch antimuslimischer Rassismus in Bosnien. Der Genozid an Bosniak*innen nicht nur in Srebrenica sondern in ganz Bosnien über vier Jahre lehrt uns was passieren kann, wenn wir nicht einschreiten und wenn wir solche Rassismen eskalieren lassen.

 

Du arbeitest ja auch seit Jahren zum Zusammenhang von Genozid und antimuslimischem Rassismus. Wie stehen die beiden Themen konkret in Verbindung zueinander? 

Das eine führt zum anderen hin. Es geht natürlich nicht bei jedem Genozid um antimuslimischen Rassismus, da können allgemein Rassismus, Antisemitismus, ethnischer Hass oder andere Motive dahinter stecken. Aber: Ein Genozid eskaliert nach 10 Stufen, und die ersten Phasen eines Genozids lassen sich mit Rassismus beschleunigen, allein schon durch die Aufteilung von Menschen in Gruppen: Wir und Die, also eine Aufteilung die beim Rassismus mit dazu gehört. So kann man mit Rassismus die ersten paar Stufen zum Genozid gewissermaßen überspringen. Das Einzige, was man dann noch braucht um aus krassem Rassismus einen Genozid zu machen, ist dann eigentlich nur Angst, ist Gefahr. Denn um Menschen zu mobilisieren, um sie dazu zu bringen andere zu ermorden, braucht es ein Motiv das Ihnen sagt, dass die Morde eigentlich keine Morde sind, sondern Selbstverteidigung. Deswegen wurde von der jüdischen Weltverschwörung gesprochen, von Tutsis, die angeblich den Präsidenten Ruandas ermordet hätten, von Bosniak*innen die einen Genozid an den Serb*innen planten und so weiter. Also alle diese Lügen wurden gestreut, damit eine Gemeinde nicht nur gehasst wird, sondern als gefährlich markiert wird. Hass alleine artikuliert sich anders, im Wahlverhalten vielleicht, aber Genozid erfordert auch eine Legitimation. Und wenn der Rassismus zu dieser Mischung noch Dehumanisierung liefert, dann ist es nicht mehr weit zum Genozid.

 

Der Genozid von Srebrenica sorgte in den 90ern für Entsetzen auch in Deutschland. Hast du den Eindruck, das hat angehalten und es gibt für den Genozid in Bosnien ein Bewusstsein?

Als der Krieg in der Ukraine begann haben wir im Gegenteil gesehen, dass eine peinlich und entsetzlich große Zahl von Menschen vom ersten Krieg in Europa seit Ende des 2. Weltkriegs gesprochen hat. Da war es mit dem Bewusstsein nicht weit her. Als das dann mühsam widerlegt wurde, wurde stattdessen gesagt, der erste Angriffskrieg. Bosnien war aber auch ein Angriffskrieg. Dann hieß es irgendwann, der größte Krieg, und da frage ich mich, was zur Hölle soll Größe denn jetzt beschreiben. Allein das zeigt schon wie wenig präsent der Genozid in Bosnien ist. Und auch, dass dieser auf Srebrenica reduziert wird, anstatt zu wissen es geht nicht um fünf Tage im Juli 1995, sondern um vier Jahre in den 90ern im ganzen Land Bosnien und nicht nur in einer Kleinstadt. Es geht nicht um 8000 Menschen, sondern um mehr als 100.000. Das wird halt alles in Deutschland vergessen. Und das Vergessen passt auch ins Narrativ von 70 Jahren Frieden in Europa, obwohl es mit der Realität wenig zu tun hat. Viel unangenehmer wäre es, zu sagen, der Genozid an den Bosniak*innen war eigentlich ein gesamteuropäisches, christliches Supremacy-Projekt, bei dem der Tod von Muslim*innen in Bosnien in Kauf genommen wurde – das kann man beispielsweise aus Zitaten von Diplomat*innen und Staatsoberhäuptern in der Biographie des ehemaligen US-Präsident Bill Clinton nachlesen.

 

Warum wird denn über antimuslimischen Rassismus und antimuslimische Gewalt so selten berichtet?

Die neuen deutschen Medienmacher haben ja eine Studie, wonach 94 Prozent der Chefredakteur*innen in deutschen Redaktionen keinen Einwanderungshintergrund haben. Und von denen, die einen Migrationshintergrund haben, stammen die meisten aus dem EU-Ausland, aus nicht-muslimischen Ländern. Also ist die Zahl der muslimischen Chefredakteur*innen, die entscheiden, worüber berichtet wird, verschwindend klein. Und das ist kein abstraktes Problem, sondern ein konkretes: Wenn die Redaktion dann denkt, dass es beispielsweise zum Genozid an den Uighuren schonmal vor 2 Monaten einen Text gab, dann sieht sie nicht die Notwendigkeit das Thema erneut aufzugreifen, während über ein Thema aus den USA auch zum Zehntausendsten Mal berichtet wird. Die Zusammensetzung von Redaktionen ist keine abstrakte Frage, sondern da sitzen Menschen mit bestimmten Perspektiven, mit bestimmten Wünschen, mit bestimmten Interessen die nicht erkennen warum der Mord an Marwa el-Sherbini oder der Genozid an Bosniak*innen so wichtig sind. Und dann berichten sie eben auch weniger darüber.

 

Was würdest du dir als Gegenmaßnahmen wünschen im Kampf gegen antimuslimischen Rassismus?Eigentlich müsste es in allen Bereichen der Gesellschaft bekämpft werden, in Schulen, in Bildungsinstitutionen, aber ich bin Journalistin und beschwere mich deswegen in erster Linie über den Journalismus. Und da merkt man, selbst wenn solche Themen es in die Medien schaffen, werden sie oft schlecht bearbeitet. Das fällt gerade auch im internationalen Vergleich auf. Die Haaretz zum Beispiel, also diese linke israelische Zeitung, die machen sehr gute Berichterstattung zu Bosnien, weil sie verstehen, was Genozid ist. Aber in Deutschland fehlt in vielen Redaktion das Verständnis bestimmter Konzepte. Also da würde ich mir wünschen, dass Redaktionen diesem Thema die Ernsthaftigkeit geben, die es verdient und zumindest mal recherchieren, was Genozid genau ist, bevor sie darüber schreiben. Und das gilt auch für den antimuslimischen Rassismus, der oft belächelt wird und von der Gewalt getrennt wird. Das ist dann auch nicht mal ein Fehldenken, sondern eine Strategie Rechtsradikaler die aufgeht, wenn diese ihren antimuslimischen Rassismus als Feindschaft gegenüber “muslimischer Ideologie” und nicht gegenüber Menschen verkaufen und übergehen, dass genau deswegen konkret Menschen getötet werden. Das ist einfach eine politische Ausrede, die leider zu oft funktioniert. Und das müssen die Menschen verstehen, dass eben antimuslimischer Rassismus genauso ernst genommen und gesellschaftlich geächtet werden muss wie andere Formen der Menschenfeindlichkeit, also wie Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und so weiter. Aber dazu muss man ihn gemeinsam mit der Gewalt gegen Muslim*innen denken und nicht künstlich davon trennen.

 

 

Danke für das Gespräch, liebe Melina!

 

 

Melina Borčak ist freie Journalistin und Filmemacherin, beispielsweise für CNN, RBB und Deutsche Welle. Seit fünf Jahren lebt sie in Deutschland und arbeitet unter anderem zu den Schwerpunkten (antimuslimischer) Rassismus, Genozid, Flucht und antirassistische Medienkritik. Mehr Informationen zu ihr gibt es bei