Dieses Wochenende wählt NRW einen neuen Landtag, der Wahlkampf ist im Endspurt. Welche Rolle spielt die Bildungspolitik in diesem Wahlkampf? Und haben die Parteien aus eurer Sicht ihre Hausaufgaben dazu gemacht?
Das Thema Bildung wird gerne von allen Parteien als Motor ihrer Wahlkampagnen betrachtet, weil es greifbar und nah ist. Jeder von uns hat eine klare Meinung dazu und das nutzen die Parteien strategisch und kreativ aus, wenn auch nicht so konfrontativ. Dazu kommen Defizite in der Pandemie, womit auch Bildungsbenachteiligungen stärker in den Blick geraten. Wie ernst die Parteien es aber mit ihren Verbesserungsvorschlägen meinen, wird sich erst nach der Wahl zeigen, wenn die Versprechen auch umgesetzt werden müssen. Bei der letzten Landtagswahl war der Ton jedenfalls schärfer. In diesem Wahlkampf fehlen die hitzigen Debatten von damals um Förderschulen, Inklusion, G8-/G9-Abitur – und damit auch gegensätzliche Positionen. Dieses Jahr klingen die Parteien viel harmonischer und vertreten ähnliche Positionen.
Während die schwarz-gelbe Landesregierung von „weltbester Politik“ sprach, erklärte die SPD Schulpolitik kürzlich zur „Chefsache“. Aber was heißt das, und welche Positionen zum Thema Bildung vertreten die Parteien jetzt in NRW?
Ob Bildung in NRW zur Chefsache wird, bleibt abzuwarten, immerhin waren sowohl rot-grün als auch schwarz-gelb lange genug in Regierungsverantwortung. Vor der schwarz-gelben Regierung hat die rot-grüne Regierung insgesamt sieben Jahre regiert. Wenn die Parteien jetzt Bildung zur Chefsache machen wollen, impliziert das auch ein wenig, dass Bildung die letzten zwölf Jahre eigentlich auch nur ein Randthema war oder nicht?!
Grundsätzlich stimmen die Parteien im Finanzierungsbedarf des Bildungssystems überein, sie setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte. Während die SPD beispielsweise Kita-Gebühren abschaffen will, möchte die FDP ein weiteres drittes beitragsfreies Kita-Jahr durchsetzen. Sowohl die Grünen als auch die SPD wollen die Schulen komplett sanieren. Auch in Punkto Lehrer*innenstellen und Ausbau des Personals an Bildungseinrichtungen sind sich die Grünen und SPD einig. Die FDP forciert dagegen etwas stärker die digitale Aufholjagd, die längst fällig ist.
Neben den Ressourcen geht es ja auch darum, was mit zusätzlichen Mitteln konkret geschieht. Was muss geschehen, um Chancengerechtigkeit herzustellen und Rassismus im Bildungswesen zu bekämpfen?
Wir brauchen dringend mehr Lehrer*innen, zu Beginn des Schuljahres waren in NRW zirka 3.600 Stellen noch unbesetzt. Zusätzlich müssen aus der Ukraine geflüchtete Schüler*innen beschult werden, was den Bedarf an Lehrkräften noch einmal erhöhen wird. Mit Lehrer*innen allein lässt sich aber beispielsweise Rassismus nicht bekämpfen. Wir brauchen nicht nur mehr, sondern bessere Lehrer*innen, um die Effekte von sozialer Herkunft auf Bildungschancen zu verringern.
Dazu gehört eine chancengerechte Schulpolitik, die sich für kleinere Lerngruppen, gut aus- und fortgebildete und für Rassismus sensibilisierte Lehrkräfte und multiprofessionelle Teams in Schulen einsetzt. Das gilt für alle Lehrkräfte gleichermaßen und darf nicht auf Lehrkräfte mit internationaler Familiengeschichte abgewälzt werden. Denn Lehrkräfte mit internationaler Familiengeschichte besitzen keine Zauberkräfte und sind nicht alleine für einen Lernzuwachs bei Schüler*innen verantwortlich. Sie können als sichtbare Vorbilder in interkulturellen Kontexten vermitteln, ihre Mehrsprachigkeit zielgerichtet nutzen oder als empathische Ansprechpersonen für Schüler und Eltern mit internationaler Familiengeschichte zur Seite stehen. Aber als interkulturelle Feuerwehr sollten sie nicht instrumentalisiert werden.
Damit das wirksam wird, braucht es ja nicht nur mehr Diversität im Lehrer*innenzimmer, sondern auch Antidiskriminierungsmaßnahmen und eine bessere Sensibilisierung von Lehrer*innen. Hat sich die Lehrer*innen-Ausbildung dahingehend verbessert?
Wenn ich die heutigen Strukturen und Ausbildungs- und Prüfungsordnungen mit denen aus meiner eigenen Ausbildungszeit (2004 bis 2009) vergleiche, gibt es schon signifikante Entwicklungen. Während es damals fast Konsens war, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist – so dachten fast alle meiner Kommiliton*innen – spielen Vielfalt und Diversität heute eine immer stärker eine Rolle und werden, anders als damals, nicht ausschließlich defizitorientiert besprochen. Vor allem das neue Kerncurriculum für die schulpraktische Ausbildung beinhaltet die Leitlinie „Vielfalt“ mit fünf verschiedenen Handlungsfeldern, die im reziproken Verhältnis zueinanderstehen und die diversitätsorientierte Professionalisierung von angehenden Lehrkräften beabsichtigen. Trotz dieser Fortschritte wird aber der Begriff „Rassismuskritik“ beispielsweise nicht explizit im Kerncurriculum erwähnt. Ich glaube daher nicht, dass solche migrationspädagogischen Entwicklungen innerhalb der Lehrer*innenbildung eine politisch motivierte Intention haben, sondern sich eher faktisch aus den migrationsgesellschaftlichen Entwicklungen ergeben.
Nahezu die Hälfte der neu einzuschulenden Kinder in NRW haben nämlich eine Einwanderungsgeschichte. Die Lehrer*innenbildung muss sich also auch den migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungen anpassen. Während meiner eigenen Ausbildungszeit musste ich zwar zum Glück nie einen arroganten türkischen Vater mit einem Problemkind (!) spielen, solche fiktiven Konfliktgespräche mit muslimischen oder türkischen Eltern gehörten und gehören teilweise immer noch zu den beliebtesten Rollenspielen. Das war zwar noch nie zeitgemäß, fällt aber immer schneller negativ auf.
Es wäre aber natürlich auch wünschenswert, wenn Schulpolitik nicht nur demographischen Realitäten reagieren, sondern aktiv dazu beiträgt Rassismus abzubauen. Gibt es Pläne rassismuskritische Inhalte in die Ausbildung einfließen zu lassen, und welchen Beitrag könnt ihr als Netzwerk dazu leisten?
Auf Seiten der Politik wird dies nicht diskutiert, und ist auch kein Thema im Wahlkampf. Dabei müssen alle Akteure der Bildungslandschaft – auch die Politik – dafür sorgen, dass rassismuskritische Inhalte fester Bestandteil von Lehrplänen und Ausbildungsordnungen werden und ein rassismuskritisches Bewusstsein entwickelt wird. Das setzt voraus, die eigenen Privilegien in dieser Gesellschaft zu hinterfragen und die eigene Rolle innerhalb dieser Machtasymmetrie zu reflektieren. Wir setzen als Netzwerk dabei mehr auf die Zusammenarbeit mit Hochschulen. Diese Hochschulen haben bei der Akzentuierung ihrer Schwerpunkte nämlich viel mehr Gestaltungsräume als beispielsweise die Lehrer*innenausbildung durch das Schulministerium. Innerhalb dieser Gestaltungsräume bringen wir uns ein und leisten im Rahmen unserer Möglichkeiten und Ressourcen unsere Beiträge.
Seit 15 Jahren arbeiten wir deshalb sehr eng mit den lehrer*innenbildenden Hochschulen in NRW zusammen. Dazu zählt beispielsweise das landesweite Mentoringprojekt „Ment4you“, das wir 2016 bis 2021 durchgeführt haben. Erfahrene Lehramtsstudierende haben wir zu Mentor*innen qualifiziert, die Studienanfänger*innen unterstützt, begleitet und vor allem im Bereich der migrationspädagogischen und rassismuskritischen Inhalte qualifiziert haben. Seit dem Wintersemester 21/22 läuft an den Hochschulen das neue Projekt „DiversiTeach“, das viel stärker systemisch innerhalb der universitären Lehrer*innenbildung verankert ist. Mit den Bildungszentren arbeiten wir zusammen, um angehende Lehrkräfte schon zu Beginn ihrer Ausbildung in Seminaren mit migrationspädagogischen Schwerpunkten mit solchen Themen zu konfrontieren.
Ihr engagiert euch unter anderem für Mehrsprachigkeit in der Bildungspolitik. Was versteht ihr darunter und wieso würde die Bildungspolitik davon profitieren?
Als Lehrende mit Zuwanderungsgeschichte ist die Beherrschung mehrerer Sprachen für uns eine Selbstverständlichkeit. Noch lange keine Selbstverständlichkeit sind der Stellenwert und die noch nicht genutzten Potentiale von Mehrsprachigkeit für unsere Schulen. Mehrere Sprachen sprechen zu können, wird leider immer noch von vielen Lehrkräften als ein Defizit angesehen, wenn es dabei um Sprachen aus dem nicht-europäischen Raum geht. Unsere Mitglieder berichten häufig, dass diese Sprachen auf Schulhöfen und Lehrer*innenzimmern verboten wurden. Das darf in unserer heutigen Migrationsgesellschaft nicht passieren! Das Recht, eigene und fremde Sprachen sprechen zu dürfen, darf weder Schüler*innen noch Lehrkräften weggenommen werden.
Wie kann es zu solchen Vorfällen kommen? Und wie geht ihr damit um?
Viele unwissende Lehrende befürchten, dass der Gebrauch von nicht-deutschen Sprachen auf Kosten von Deutsch geht. Doch es ist keine Entweder-Oder-Entscheidung, es geht um sowohl und als auch. Es geht darum, mehrere Sprachen für den Erwerb der Bildungssprache in Deutsch nützlich zu machen. Diesen Gedanken können oder wollen einige Lehrende nicht verstehen. Die Politik muss der Mehrsprachigkeit von Schüler*innen und Lehrkräften endlich einen höheren Stellenwert verleihen. Konkret bedeutet das, die sprachlichen Kompetenzen als wertvolle Ressource wertzuschätzen und für den Erwerb bildungssprachlicher Fähigkeiten nützlich zu machen. Es gibt zahlreiche Studien, die den Nutzen mehrsprachiger Zugänge belegen und zahlreiche Projekte und Programme, die in Schulen intensiver und nachhaltiger umgesetzt und verstetigt werden müssten. Das muss die künftige Landesregierung berücksichtigen. Wir schließen uns da dem Plädoyer von Didaktikprofessorin Susanne Prediger an: „Nutzen Sie die vorhandenen Sprachen für unterrichtliche Zusammenhänge, schaden tut es den Schüler*innen nicht!“. Hoffen wir, dass die Politik dies in der nächsten Legislaturperiode endlich ernst nimmt.
Danke für das Gespräch, Lieber Ahmet!
Ahmet Atasoy ist seit 2016 Landeskoordinator des Netzwerks Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW. Er unterrichtet die Fächer Englisch und Psychologie an einer Gesamtschule. Neben seiner Begeisterung für Sprachen, Weltgeschichte und Fußball ist er auch Berater für Unterrichts- und Schulentwicklung. Seine fachlichen Schwerpunkte: Migrationspädagogik, Rassismus- und Diskriminierungskritik.