Während die Taliban Anfang August 2021 Schritt für Schritt auf die Hauptstadt Kabul vorrückten, plädierte das deutsche Innenministerium auf EU-Ebene dafür, Abschiebungen nach Afghanistan weiterzuführen – um keine Anreize für Migration nach Europa zu setzen. Beendet wurde die Abschiebepraxis erst am 11.8., also kurz vor der Machtübernahme der Taliban.
Warum hielt das Innenministerium so lange an einer offensichtlich menschengefährdenden Abschiebepraxis fest? Die dramatische Sicherheitslage war bereits Jahre zuvor absehbar. Spätestens mit dem Abkommen der USA mit den Taliban Anfang 2020 rechneten Diplomat*innen mit einer Zuspitzung in Afghanistan. US-Geheimdienste hielten einen Fall der Regierung in Kabul innerhalb von 6 Monaten nach Abzug der internationalen Truppen für realistisch. Ein Aufnahmeprogramm für Ortskräfte lehnte der Bundestag dennoch 2021 ab, und im Juli kündigte die afghanische Regierung das Kooperationsabkommen mit der EU über Abschiebungen wegen der Sicherheitslage auf.
Trotz aller Warnungen wurden weiter Abschiebungen forciert. Recherchen der ZEIT zeigten, dass die Bundesregierung gezielt Druck auf das BAMF ausübte, um Asylanträge aus Afghanistan abzulehnen und Abschiebungen in das Land zu ermöglichen. Daraus könnte man schließen, die Entscheidungen würden nicht sachlich gefällt, sondern aus der politischen Motivation heraus, eine harte Linie gegen Einwanderung zu zeigen.
Das Recht auf Asyl darf nicht von der politischen Stimmung abhängig sein
Denn diese Abschiebepraxis wurde vor allem nach 2015 forciert, als Rechtspopulist*innen politischen Aufwind hatten und gegen Einwanderung Stimmung machen. Die Asylpakete, die 2015 und 2016 verabschiedet wurden, hatten zum Ziel, gleichzeitig Gegner*innen und Befürworter*innen von Migration zufriedenzustellen. Geflüchtete wurden in dabei in Gruppen aufgeteilt: Die einen erhielten besseren Zugang zu Leistungen und Integrationsmaßnahmen, die anderen wurden verstärkt abgeschoben. Diese Ungleichbehandlung durchzog die Migrationspolitik nach 2015.
Besonders empfindlich für politische Stimmungslagen ist die Designation als „sichere Herkunftsstaaten“, womit Asylanträge aus diesen Ländern schneller abgelehnt und Staatsangehörige leichter abgeschoben werden können. 2015 wurden beispielweise Albanien, Montenegro und Kosovo als „sichere Herkunftsstaaten“ bestimmt – nicht etwa, weil die Sicherheitslage im Westbalkan sich verändert hatte, sondern weil die Anzahl der Schutzsuchenden in Deutschland zugenommen hatte. Die Designation erfolgte also aus politischen, nicht aus sachlichen Gründen, und resultierte in hohen Abschiebezahlen – Staatsangehörige dieser Länder werden seitdem besonders häufig abgeschoben. Ist jemand nun weniger von Verfolgung bedroht, weil die deutsche Politik Migrationszahlen reduzieren möchte? Oder gehen hier vielmehr politische Ziele auf Kosten der Menschenrechte?
Wenn die Bundesregierung aus diesen Fehlern lernen will, muss sie das Bleiberecht auf eine sachliche Grundlage stellen
Wozu eine solche Willkür führt, zeigte der Umgang mit Afghanistan besonders drastisch auf. Aus humanitären Gründen darf in aktive Kriegsgebiete nicht abgeschoben werden – politisch wurden Teile Afghanistans dennoch als „sicher“ definiert. Eine solche realitätsferne Beurteilung darf sich nicht wiederholen. Für Krisengebiete kann die Bundesregierung beispielsweise ein Abschiebeverbot beschließen. Dabei darf sie sich nicht an politischen Stimmungen in Deutschland orientieren, sondern nur an der Gefährdungslage vor Ort. Gleichzeitig zeigen die Berichte aus dem BAMF: Einzelfallprüfungen müssen gestärkt werden, damit das Recht auf Asyl jedem Menschen gleich gewährt wird, unabhängig von der Staatsbürgerschaft und politischer Zielsetzungen.
Das kürzlich verabschiedete Migrationspaket der Bundesregierung soll unter anderem die Praxis der Kettenduldungen durch ein neues Aufenthaltsrecht ersetzen. Das schafft Sicherheit für Tausende von Menschen. Sie will aber im Rahmen einer „Rückkehroffensive“ Abschiebungen forcieren – und droht damit, die Ungleichbehandlung von Schutzsuchenden aufgrund ihrer Herkunftsstaaten erneut zu verschärfen. Stattdessen sollte sie aus den Fehlern in Afghanistan lernen und beispielsweise mit dem Einsatz von Abschiebeverboten den Schutz von Geflüchteten aus Krisengebieten ermöglichen – unabhängig von der tagespolitischen Stimmung. Denn Krisen, das zeigte sich vor einem Jahr, folgen selten bürokratischen Vorgaben aus Berlin.
Dr. Tareq Sydiq ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit bei den neuen deutschen organisationen