Der Verrat durch einen Menschen schmerzt, der durch den Staat macht heimatlos. Ein Gefühl der Lähmung und Sprachlosigkeit befällt viele Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland, wenn sie an den „Nationalsozialistischen Untergrund“ denken. Insbesondere wenn wir versuchen zu verstehen, wie dilettantisch und unachtsam die Aufklärung der kaltblütigen Mordserie durch die deutschen Behörden damals vonstatten ging – der Begriff Hinrichtungen würde die Umstände der Tötungen sehr viel präziser umschreiben. Hinreichend aufgeklärt wurde im Übrigen bis heute nicht, dafür verschwanden Tausende von Akten in den zuständigen Bundesbehörden, die vielleicht aufzeigen würden, wie engmaschig der deutsche Staatsapparat mit Neo-Nazi-Kreisen in Deutschland verquickt ist. Im Dienste der Aufklärung.
Wir alle erinnern uns sehr genau daran, wo wir uns an jenem Tag aufhielten, als Beate Zschäpe, die Nazi-Terroristin, die selbstredend von allem nichts gewusst haben will, sich den deutschen Behörden „stellte“. Für den türkischstämmigen Regisseur, Autor, Schauspieler und Anästhesisten Tuğsal Moğul aus Münster war es „mein erneuter 9/11 Moment“.
Wir alle hatten wiederum sehr verschiedene Arten auf diese absurd-widerwärtigen Enthüllungen die von so viel Menschenhass zeugten, zu reagieren. Ich schrieb in meiner Funktion als Journalistin in den USA einen wütenden Artikel für die US-Ausgabe der Huffington Post mit dem Titel „Astonished by German Astonishment Over Nazi Attacks“ (Erstaunt von deutschem Erstaunen über Nazi Attacken). Tuğsal Moğul, dem nicht wie mir das Privileg der Distanz eines Ozeans zum Täter*innenland zur Verfügung stand, machte ein Theaterstück draus. „NSU – Auch Deutsche unter den Opfern“ ist eine wohltuend schonungslose Aufarbeitung des Unvorstellbaren. Wenn jemand vermag der „Mehrheitsgesellschaft“ den Schmerz des Verrates, das Gefühl der ewigen Isolation bei gleichzeitiger, nie enden wollender Zurschaustellung „des Anderen“ präzise vermitteln zu können, dann sind es die Werke von Tuğsal Moğul.
Im Interview mit den ndo erklärt Tuğsal, was ihn bewegt:
Wie hast Du den Tag der NSU-Enttarnung empfunden?
Es war mein erneuter 9/11 Moment. In der Zeit lag mein Vater im Sterben, es überlappten sich somit zwei Trauerphasen. In der Zeit in der die Morde passierten, hatte ich immer wieder erlebt, dass türkische Zeitungen anders berichteten, als deutsche. Während die Morde in Deutschland „Döner Morde“ hießen, also unterstellt wurde, dass sich die „Mafia“ da gegenseitig erschießt, war in den türkischen Zeitungen viel schneller die Rede von rechtsextrem-motivierten Taten in Deutschland.
Wie hast Du dann reagiert?
Ich habe mich sehr schnell daran begeben, selbst zu recherchieren. Ich habe in den folgenden Jahren in München die NSU-Prozesse verfolgt, mit dem Ziel diese Rechercherarbeit dann auf die Bühne zu bringen. So entstand das Stück „NSU-Auch Deutsche unter den Opfern“. Mir war es wichtig darzustellen, wie immens die desaströse Fehlerquote bei den Ermittlungen durch die Behörden war. Mir war es zudem wichtig für die Uraufführung des Stückes in Münster damals mit den SchauspielerInnen, erstmal ganz ohne Bewertung oder politische Agenda, die Fakten darzustellen und Hintergründe aufzuzeigen. Das Versagen des Verfassungsschutzes hat mich immens schockiert. Durch die föderale Struktur der BRD wurde häufig schlampig gearbeitet, die Behörden in den verschiedenen Bundesländern informierten sich nicht hinreichend gegenseitig. Institutionalisierter Rassismus spielte eine große Rolle. Sonst wäre diese unmittelbare Fixierung auf eine ausländische „Mafia“ wohl gar nicht erst geschehen. Es ist gar nicht auszudenken, wieviel Zeit damit verloren wurde, und wie viele Todesopfer hätten verhindert werden können.
Warum erscheint es in Deutschland so schwierig zu sein, sich dem eigenen Rassismus zu stellen?
Rassismus hat ja eine gewisse Tradition in diesem Land. Und für diesen Rassismus übernimmt in den seltensten Fällen jemand Verantwortung.
Wie hast Du Deine Kindheit und Jugend in Deutschland erlebt?
Ich bin in Neubeckum, Westphalen geboren und Rassismus gehörte für mich von Kindheit an zur Lebenserfahrung. Schon in der Schule war es mit meinem Namen schwer. Meine Deutschlehrerin auf dem Gymnasium nannte mich jahrelang „TuGsal“, mit betontem „G“, was aber weich “Ğ” gesprochen wird. Das habe ich damals als bewusste Schikane empfunden. In der Grundschule wollten die LehrerInnen partout nicht, dass ich auf das Gymnasium gehe. Eine Konferenz wurde dafür einberufen. Nur wegen meines Protestes mit 10 Jahren und der Unterstützung meiner Eltern, die damals nicht gut Deutsch sprachen, wurde mir der Zugang auf das Gymnasium ermöglicht. Viele fanden es dann auch erstaunlich, dass ich im Anschluss Medizin studiert habe. Menschen mit Migrationsgeschichte müssen in Deutschland eben doppelt so gut sein.
Wie begegnest Du Rechten Diskursen?
Als Arzt erlebe ich häufig Ressentiments und Statements, die nicht OK sind. Da muss man dann reagieren. Beispielsweise trug ich mal ein T-shirt mit den Opfern von Hanau mit dem Slogan #saytheirnames und da wurde ich tatsächlich gefragt, „ob das alles Rapper sind“. Die meisten wissen nicht, was in Hanau passiert ist. Das beunruhigt mich im höchsten Maße.
Würdest Du Deutschland unter gewissen Umständen verlassen?
Ja. Es fehlt nicht mehr viel, ehrlich gesagt. Mich haben die Deportationspläne der AfD, die Correctiv vor einem Jahr recherchiert und veröffentlicht haben leider nicht erstaunt. Ich bin darauf vorbereitet, dass die Stimmung in diesem Land plötzlich kippen könnte.
Biografie
Tuğsal Moğul wuchs als Sohn türkischer Einwanderer in der Kleinstadt Beckum auf. Nach dem Abitur begann er 1989 zunächst ein Studium der Humanmedizin an der Universität zu Lübeck bevor er ab 1993 parallel dazu auch Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Hannover studierte. Sein Schauspieldiplom erlangte er 1997 und im darauffolgenden Jahr schloss er sein Medizinstudium mit der Approbation an der Medizinischen Hochschule Hannover ab. 2008 gründete er das Ensemble THEATER OPERATION. Neben der Beschäftigung mit medizinischen Themen liegt ein weiterer Schwerpunkt von Moğuls Theaterarbeit in der Auseinandersetzung mit Migration, Rassismus und Rechtsextremismus. So z. B. in seiner Recherchearbeit „Auch Deutsche unter den Opfern“, die sich mit den NSU-Morden beschäftigt und 2017 von Ralf Haarmann als Hörspiel für den WDR produziert wurde, oder in seinem Theaterstück „Die Deutsche Ayşe“, in dem er mit seinem Bruder, dem Dokumentarfilmer Esat Moğul, die Migrationsgeschichte von drei türkischen Frauen der ersten Generation auf die Bühne brachte.
Für seine Stückentwicklungen nutzt Moğul Methoden des Recherche- und Dokumentartheaters und kombiniert das dadurch gewonnene Material mit fiktiven Elementen.
Im September wurde Moğul für seine Arbeit AND NOW HANAU, die 2023 bei den Ruhrfestspielen zur Uraufführung kam, in der Kategorie “Inszenierung Schauspiel” für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2024 nominiert.