„Es gibt mehr als den alten weißen Mann!“ Im Gespräch mit Hamze Bytyçi, Vorsitzender Roma Trial e.V.

Hamze Bytyçi, geboren in Prizren, Kosovo, setzt sich seit mehreren Jahrzehnten sowohl zivilgesellschaftlich, als auch politisch für die Gleichberechtigung von Roma* und Sinti* ein. Er hat zahlreiche Bündnisse, Vereine und regelmäßige Veranstaltungen mitinitiiert, u. a. Amaro Drom und Amaro Foro e.V., das Herdelezi-Fest in Berlin, die alljährlichen Gedenkveranstaltungen anlässlich des Gedenktags an den Genozid an Sinti* und Roma* am 2. August in Auschwitz und in Berlin, das Bündnis für Solidarität mit den Sinti* und Roma* Europas und viele weitere. Hamze ist seit 2012 Vorsitzender von RomaTrial e. V. und seit 2020 im Vorstand der ndo. Wir sprechen mit ihm über die Roma Biennale, Erinnerungskultur und Erwartungen an die Bundesregierung.

Seit April läuft die zweite Roma Biennale unter dem Motto „WE ARE HERE!“, die ihr als Roma Trial e.V. ins Leben gerufen habt: Welche Vision verfolgt ihr damit?

Die Roma Biennale ist eine Art künstlerisches Selbstbekenntnis zur Erinnerungskultur und startete dieses Jahr zum zweiten Mal zum 50. Jubiläum des Welt-Roma*-Tags am 08. April. Es geht uns um den Wunsch nach einer zutiefst solidarischen, radikal diversen und gerechten Gesellschaft. Denn wir können nicht weiter in unserer eigenen Suppe schmoren. Wir haben die Biennale in fünf Phasen unterteilt, in denen sich anlässlich fünf verschiedener Jahrestage, die mit der Geschichte und Gegenwart der Roma* und Sinti* zusammenhängen, 50 Künstler*innen mit fünf verschiedenen Aspekten des HIER SEINS aus der Perspektive der Rassifizierten, Unterdrückten und Marginalisierten auseinandersetzen.

Die erste Phase stand für das Selbstbekenntnis. Am 08. April vor 50 Jahren fand der erste Welt-Roma Kongress statt, heute feiern wir an diesem Datum den World Roma* Day. Der Begriff „Roma“ für „Menschen“ wurde 1971 dort als Selbstbezeichnung akzeptiert, um ein neues gemeinsames Selbstbewusstsein zu schaffen und die Anerkennung und den Respekt der Gesellschaft einzufordern. Außerdem entstanden dort die Hymne und die internationale Roma* Fahne.

Die zweite Phase stand für Widerstand und Resilienz. Am 16. Mai erinnern wir an den Aufstand der Sinti* und Roma* im sog. „Z-Familienlager“ von Auschwitz-Birkenau und feiern ihre Kraft, Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten – trotz der scheinbar aussichtslosen Bedingungen und Erschöpfung.

Die dritte Phase stand für das Überleben. Der Welttag der Migrant*innen und Geflüchteten am 20.06. ist ein internationaler Tag, der von den Vereinten Nationen ausgerufen wurde. Er feiert die Stärke und den Mut von Menschen, die gezwungen waren, aus ihrem Heimatland zu fliehen, um Konflikten oder Verfolgung zu entkommen. Auch das Leben der Roma* ist seit Jahrhunderten mit der Flucht und Vertreibung verbunden.

Die vierte Phase stand für das Erinnern. Am 2. August erinnerten wir an die 500.000 Opfer des Porajmos, des Holocaust an den europäischen Sinti* und Roma* in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Tag bezieht sich auf die Ermordung von etwa 4.200 Sinti* und Roma*, hauptsächlich Kindern, Frauen und alten Menschen, in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 im „Z-Familienlager“ des KZ Auschwitz-Birkenau.

 

Am 24. Oktober feiert ihr jetzt mit der 5. Phase das Finale der Roma Biennale und zwar am Jahrestag der Einweihung des Denkmals für die ermordeten europäischen Sinti* und Roma*?

Genau, in der 5. Phase geht es uns daher um das Thema Existenz. Wir wollen ein Zeichen setzen aus dem Land der Täter*innen, zeigen, dass wir hier sind. Am 24.10.2012 wurde das Denkmal für die ermordeten Roma* und Sinti* in Berlin eingeweiht, nicht nur für die deutsche, sondern für die europäische Minderheit. Wir präsentieren zum Jahrestag am 24.10.2021 die 50 entstandenen künstlerischen Werke, die nicht nur aus unserer Community, sondern auch von Personen stammen, die Geschichten der Verfolgung mit sich tragen, Geschichten der „Andersartigkeit“, der Marginalisierung.

Die Veranstaltung findet im ACUD MACHT NEU in Berlin statt und es gibt die Möglichkeit die Kunstwerke in Form von Postern mitzunehmen, gleichzeitig gibt es auch andere Werke zum Beispiel in Form von Literatur, Videokunst, Musik…

Hier geht es zum Programm.

 

Welche Bedeutung hat das Denkmal in Berlin für Roma* und Sinti* und was bedeutet die mögliche Beschädigung des Denkmals durch den geplanten Bau der S-Bahn Linie für eure Community? 

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs hat es 37 Jahre gedauert, bis die Bürgerrechtsaktivist*innen aus den Sinti- und Roma- Communities die Anerkennung des Völkermordes an den Sinti* und Roma* durch die Bundesregierung erkämpft haben. Erst 1992 beschloss dann die Bundesregierung, ein Denkmal für die Opfer des NS-Völkermords an Sinti* und Roma* Europas zu errichten. Und erst nach weiteren 20 Jahren wurde am 24. Oktober 2012 das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti* und Roma* Europas in Berlin-Mitte eingeweiht. Für viele Überlebende und deren Nachfahren ist es das symbolische Grab, das die Opfer nie hatten. Das Denkmal bezeugt die Existenz der Vorfahren und damit auch das eigene, gegenwärtige Dasein. Seit etlichen Monaten werden nun Verhandlungen darüber geführt, wie sehr und wie lange dieser Ort wegen des Baus einer S-Bahn-Linie beschädigt werden darf. Damit werden all diejenigen ignoriert, die ein Eingriff in das Denkmal in ihrer Existenz trifft. Damals war es die Reichsbahn, die Menschen verschleppt hat, jetzt ist es wieder die Bahn, die das Denkmal zerstören will. Wir kämpfen weiterhin für den vollständigen Schutz des Denkmals während der Umsetzung des Bauvorhabens, auch für den Schutz der umliegenden Bäume, der Natur – das gehört zu diesem Konvolut dazu, das hat der Künstler Dani Karavan so gewollt.

 

Wie bewertest du den Umgang mit Erinnerungskultur in Deutschland? 

Erinnern hat nicht immer nur etwas mit Trauer und Tod, sondern auch mit der Existenz zu tun, man erinnert sich, dass man existiert. Das Erinnern wird in Deutschland aber sehr strikt behandelt, es gibt ein bestimmtes normatives Bild, wie und was wir erinnern, das uns staatlich aufgezwungen wird. Bis zum zweiten Weltkrieg gab es eine starke religiöse Fundierung was das Gedenken anbelangt, nach dem zweiten Weltkrieg hat ein neues Gedenken stattgefunden, aber es hat sich nicht wirklich praktikabel gezeigt. Die Diversität, die dieses Land ausmacht, hat sich nicht im Gedenken wiedergefunden. Nehmen wir als ein Beispiel die „Gastarbeiter*innen“, die immer noch nicht oder kaum die Möglichkeit haben Teil des Gedenkens zu sein.

 

Hast du das Gefühl, dass sich etwas verändert? 

Ja! Ich bin stolz darauf, dass sich eine neue Generation kritisch mit Identität und Kultur auseinandersetzt. Es gibt ein Gefühl des Neu-Erinnerns. Beim Erinnerungsfutur, das vom CPPD geprägt wird, geht es beispielsweise darum, die Kultur zu hinterfragen und sich zu fragen, was machen wir in der Zukunft. Es geht darum Dialogperspektiven auszuloten und sich zu fragen, welche Community wird beim Erinnern bedacht und welche überhaupt nicht. Wir wollen Erinnerung in die Zukunft bringen. Die Erinnerungskultur hat aber erst eine Zukunft, wenn wir sie mitgestalten dürfen im Täter*innenland. Hanau, Halle, die Black Lives Matter Bewegung haben aber ja gezeigt, dass es so nicht mehr weiter geht. Die Zeit des weißen alten Mannes ist vorbei, der uns diktiert, wo der weiße alte Mann herkommt.

 

Welche Forderungen hast du in Bezug auf den Kampf gegen „Antiziganismus“ an Deutschland, vor allem an die neue Regierung?

Ich bin erstmal froh, dass es jetzt einen Cut gibt. Es muss noch mehr in den Koalitionsvertrag, und zwar nicht nur Gedenkpolitik. Die zentralen Empfehlungen der Unabhängigen Kommission Antiziganismus müssen unbedingt auch integriert werden. Diese dürfen nicht mehr so stiefmütterlich behandelt werden. Außerdem muss das Thema Antiziganismus in Curriculas und zwar nicht nur die NS-Geschichte und Grabmahlpflege, sondern auch das Hier und Jetzt, Bürgerkriegsgeflüchtete, Menschen, die jetzt hier leben, traumatisierte Menschen. Man muss auch über Kolonialismus sprechen, denn wir Roma* wurden auch kolonialisiert. Kolonialismus hat nicht nur mit dem Boden zu tun, sondern auch mit dem Denken. Wir wurden gedanklich kolonialisiert.

 

Was wünschst du dir?

Die Zeiten werden heftiger, wir haben immer größerer Herausforderungen vor uns. Wir alle gucken zu, bei schrecklichen Dingen, die täglich passieren, weil wir mittlerweile alles gewohnt sind. Dabei müssten wir eigentlich jeden Tag einem Mensch gedenken, der abgeschoben wird. Das größte Pogrom an den Roma* nach dem 2. Weltkrieg fand im Beisein der Blauhelme im Kosovo statt, damals sind rund 150 000 Roma* geflohen. Jetzt ist es wieder sicheres Herkunftsland, Menschen werden dorthin abgeschoben, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind. Ich wünsche mir eine Kontingentlösung, damit diese Menschen hier sicher sind.

 

Vielen Dank für das Gespräch, lieber Hamze!