Im Schatten des Menschheitsverbrechens
Vor 82 Jahren begann das Rauben und Morden, das wir heute als Reichspogromnacht bezeichnen. An Tagen wie dem 8. Mai („Tag der Befreiung“), dem 20. Juli („Tag des Widerstands gegen den Nationalsozialismus“) oder auch dem 9. November werden die Mythen deutscher Erinnerungsabwehr besonders deutlich. Erinnerungsabwehr ist ein Ausdruck des Antisemitismus in Deutschland. Es ist die Gewalt einer Erinnerungsverweigerung, die aus Unwillen und Unfähigkeit entsteht, sich mit dem Erbe der Barbarei auseinanderzusetzen. Der 9. November ist kein jüdischer (religiöser) Erinnerungstag, sondern ein Tag, an dem sich die deutsche Gesellschaft daran erinnern soll, was 1938 geschehen ist. Diese Tage im November markieren nicht den Beginn der Verfolgung. Doch an ihnen könnte besonders deutlich werden, wie falsch die Wahrnehmung ist, dass am 8. Mai alle Deutschen befreit wurden. Die nationalsozialistische Zustimmungsdiktatur zeigte ganz offen, welche Pläne sie hatte. Spätestens seit diesem Tag wussten die Menschen in Deutschland, was mit ihren jüdischen Nachbar:innen, Freund:innen, Kolleg:innen passierte. Dementsprechend stellte der Historiker Ian Kershaw ganz zutreffend fest, dass der Weg nach Auschwitz mit Gleichgültigkeit gepflastert war. Es gab wiederholt Versuche, durch eine Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten der NS-Ideologie, die bis heute in die deutsche Gesellschaft fortwirken, die verschiedenen Narrative zu brechen. Die Student:innenrevolte entzündete sich an dem Schweigen, das die Täter:innengeneration über die eigenen Verbrechen gelegt hatte. Ein Schweigen, das Max Horkheimer einmal als „Gespenstersonate“ bezeichnete. Entgegen der Versuche, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Fortwirken völkischen, antisemitischen, antiziganistischen, rassistischen, LGBTIQ+-feindlichen, sexistischen und ableistischen Gedankenguts zu führen, gab es gleichermaßen Gegenbewegungen. Ein Teil davon negierte die Schwere des Verbrechens, der andere Teil nutzte die angeblich vorbildhafte Aufarbeitung, um das neue Nationalbewusstsein zu legitimieren. Bei dieser Selbstbefassung werden jüdische und/oder migrantische Stimmen in die Zuschauer:innenposition gedrängt.
Die Brüche und Widersprüche in der Erinnerungspolitik werden heute besonders deutlich. Samuel Salzborn betont, dass es zwar eine hochprofessionelle Forschung gibt, die Erkenntnisse liefert und vermittelt, diese aber von einer „historisch desorientierte[n] und weitgehend faktenresistente[n] deutsche[n] Bevölkerung“ ignoriert, oder sich von ihr distanziert wird. Dieser Gegensatz schlägt sich in allen gesellschaftlichen Sphären nieder. So erfüllen viele Gedenkrituale inzwischen die Funktion, die Adorno bereits 1959 beschrieben hat: „Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, dass man das Vergangene im Ernst verarbeite (…). Sondern man will einen Schlussstrich darunter ziehen (…)“.
Diesen Zuständen gilt es etwas entgegenzuhalten: Eine Kultur der Kritik, ein kritisches Bewusstsein, ein Aufbegehren gegen die Vereinnahmung. Hinter dem Schleier von Erinnerungsabwehr und Legitimationsmechanismus finden sich die Ideologien, die nach wie vor Leben und Alltag der Menschen in dieser Gesellschaft bestimmen. Sie begrenzen nicht nur die Möglichkeiten zu Teilhabe und Sichtbarkeit, sondern manifestieren sich in der Gewalt, die Menschen, die als „Andere“ markiert werden, in dieser Gesellschaft erleben. Um das Bild als ‚wiedergutgewordenes‘ Land aufrechtzuerhalten, als das sich in den Erinnerungsnarrativen inszeniert wird, müssen antisemitischer und rassistischer Terror, Gewalt und die alltägliche Bedrohung und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen verdrängt werden. So kann nicht verstanden werden, dass sich Attentäter:innen nur als die Speerspitze der schweigenden Mehrheit sehen. Diese ist wiederum nicht in der Lage, eine angemessene Antwort zu finden, solange sie nicht bereit ist, schonungslos der eigenen Verwicklung gegenüber zu treten. Es benötigt schonungslose und kritische Selbstreflexion. Adorno formulierte einmal, dass es wichtig wäre, „das Geschehen zur Sache der eigenen Verantwortung zu machen“, „sich selbst moralisch einzubeziehen“, „sich selbst als schuldig (…) [zu erfahren], auch an dem, woran (…) [man] im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist.“ Das bedeutet nicht, hier eine persönliche Schuld zu formulieren, sondern die Verantwortung zu erkennen. Die Verantwortung liegt eben darin, daran mitzuwirken, dass diese Gesellschaft zu einer wird, in der man „ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno).
Das ist die Aufgabe aller Menschen, die in dieser Gesellschaft leben: Das reale Grauen erkennen, ohne es in das Abstrakte zu universalisieren oder die Singularität der Shoa in Frage zu stellen. Zu erkennen, dass Auschwitz Symbol des Kernereignisses des Nationalsozialismus ist, des Antisemitismus. Und mit dieser Erkenntnis die Mythen zurückzuweisen, die in dieser Gesellschaft vorherrschen. Eine emanzipatorische Gesellschaftskritik kann Kämpfe um Sicherheit, Teilhabe und Sichtbarkeit allerdings nur als Gemeinsame formulieren. Die Aussagen von Terroristen zeigen, wie eng die unterschiedlichen Ideologien miteinander verwoben sind. Die Attentäter von Halle und Hanau hatten ein Weltbild, in dem Antisemitismus, Rassismus und Sexismus untrennbar miteinander verschränkt waren. Nach 1945 wurden antisemitische Äußerungen, die das Fortwirken der NS-Ideologie sichtbar machen konnten, zwar vermeintlich tabuisiert, aber die Denkstrukturen, setzten sich in anderen Ideologien fort. Betrachten wir beispielsweise antikommunistische oder homofeindliche Äußerungen aus jener Zeit, erfüllen diese viele Merkmale strukturellen des Antisemitismus.
Die unterschiedlichen Ideologien können Stellvertreterfunktionen füreinander einnehmen, wobei sie ineinander fortwirken. Deshalb enttarnt sich die Rede vom ‚christlich-jüdischen Abendland‘ oder rechter Israelsolidarität als Anwalt des Falschen. Einerseits, weil die tatsächliche Diversität der israelischen Gesellschaft zugunsten einer Phantasmagorie verdeckt und andererseits, weil hier lediglich Jüdinnen:Juden instrumentalisiert werden, um das eigene rassistische Ressentiment in einer gesellschaftlich akzeptierten Form zu verschleiern.
So sehr sich diese Ideologien ineinander verschränken, ist für einen angemessenen Kampf gegen sie allerdings auch ihre Differenz zu betonen. Die Singularität der Shoa lässt sich nur anhand der Spezifika antisemitischer Ideologien erkennen. Es gilt, dem Versuch zu widerstehen, Ungleiches zu vergleichen, Leidenshierarchien zu bilden, oder Auswüchse zu relativieren. Entsprechend müssen Geschichte und Gegenwart von Rassismus in Deutschland gleichermaßen schonungslos analysiert und kritisiert werden. Damit das möglich ist, müssen die Besonderheiten von diesen Ideologien herausgearbeitet werden. Während dem Rassismus z.B. die Möglichkeit der Vernichtung inhärent war, handelt es sich beim Antisemitismus um dessen notwendiges Ziel. Rassismus legitimiert die ökonomische Ausbeutung und zielt auf Beherrschung ab. Die ‚jüdische Macht‘, in den Denkstrukturen des Antisemitismus, kann allerdings nicht beherrscht werden. Sie wird zum absoluten Unheil, das alle Gemeinschaftsbildung und Errettung in Frage stellt. Es reicht nicht, ‚den Juden‘ zu beherrschen. Die:Der Antisemit:in muss ihn vernichten, sonst kann die Gefahr nicht gebannt werden.
Kein Mensch, der in dieser Gesellschaft lebt, ist frei von ihren Ideologien. Damit es Bündnisse geben kann, mit denen man schlagkräftig diesen Gefahren und dem Ressentiment entgegenwirken kann, gilt es, die eigene Eingebundenheit zu verstehen. Es gilt, falscher Prophetie eine Absage zu erteilen, sich nicht von falschen Versprechungen dumm machen zu lassen, sondern einzugreifen, und es gilt, den Mythen der Erinnerungsabwehr entgegenzutreten. Ehrliche und kritische Selbstreflexion ist der Weg dazu, denn nur so können wir dauerhafte Bündnisse bilden. Und nur so können Verbündete gewonnen werden. Denn Antisemitismus ist nicht das Problem von Jüd:innen, oder Rassismus das Problem von Menschen, die rassifiziert werden, sondern es sind Probleme der gesellschaftlichen Teile, die diese Ideologien reproduzieren. Und diese Ideologien stellen das gesamte gesellschaftliche Fundament in Frage. Wer in einer freien Gesellschaft leben will, kann nicht zulassen, dass es für Menschen einen Alltag gibt, zu dem Angst und Diskriminierung gehören.
Vielen Dank an Monty Ott für den Gastbeitrag anlässlich des Gedenkens an die nazionalsozialistischen Pogrome vom 09.11.1938
Monty Ott (29) ist LGBTIQ+-jüdischer Aktivist, verfasst derzeit seine Doktorarbeit und ist Vorsitzender von Keshet Deutschland e.V.
Ott hat bereits mehrfach kritische Beiträge zu Erinnerungskultur, Antisemitismus und LGBTIQ+-Feindlichkeit verfasst.