“Die Corona-Pandemie zeigt: Wir brauchen eine gerechtere und inklusivere Gesundheitsversorgung”

Zu Beginn der Pandemie hieß es, das Virus trifft alle Menschen gleich.

Über ein Jahr nach dem Ausbruch der Corona-Krise wird immer klarer, dass dem nicht so ist.

Wir haben dazu mit Dr. Cihan Sinanoğlu gesprochen, dem Leiter der Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Außerdem haben wir Dr. Sinanoğlu gefragt, wie eine gerechtere und inklusivere Gesundheitsversorgung aussehen könnte, und welche Rolle Forschung dabei spielt

Gibt es Erkenntnisse, die nahelegen, dass Menschen, die von Rassismus betroffen sind, auch überproportional häufig an Corona erkranken?

Es gibt eine OECD-Studie die nachweist, dass Menschen mit Einwanderungsbiografien häufiger von Corona betroffen sind, als andere Gruppen.

Die Studie führt aus, dass das Risiko, an Corona zu erkranken, mit dem sozioökonomischen Status korreliert. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem Einkommen, also dem sozialen Status, den Beschäftigungsverhältnissen, in denen Menschen arbeiten und den Wohnverhältnissen, in denen sie leben – all das hat Einfluss auf die Gesundheit. Das ist naheliegend und in der Medizin ist schon lange bekannt.

In unserer Einwanderungsgesellschaft sind Menschen mit Migrationsbiografien wiederum sehr oft im Niedriglohnsektor zu finden. Sie sind öfter Ausbeutungsverhältnissen ausgesetzt, arbeiten häufiger unter schlechten Arbeitsbedingungen und leben öfter in benachteiligten Gegenden und in beengteren Wohnverhältnissen als der Durchschnitt der deutschen Gesamtgesellschaft. Diese Komponenten und deren Auswirkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, müssen für Deutschland noch genauer erforscht werden.

Für die USA liegen bereits Daten vor, die ganz klar zeigen, dass zum Beispiel Schwarze Menschen häufiger und stärker von Corona betroffen sind, als andere Gruppen. Auch aus Dänemark und Großbritannien gibt es mittlerweile einige Daten. Sie weisen in die gleiche Richtung: Menschen, die von Rassismus betroffen sind, erkranken häufiger und stärker an Corona. Für Deutschland gibt es diese Daten aber noch nicht. Und das ist keine Überraschung, weil das Problem des Rassismus in seinen unterschiedlichen Dimensionen immer noch ignoriert wird.

 

Die Schwere einer Corona-Erkrankung steht im Zusammenhang mit den Vorerkrankungen. Sind Menschen mit Migrationsgeschichte öfter mit Vorerkrankungen belastet als der Durchschnitt der Gesamtgesellschaft?

Ich glaube, das ist eine empirische Frage. Die meisten Studien, die ich in Bezug auf Migration und Gesundheit kenne, zeigen, dass die Menschen, die in Deutschland ankommen, erstmal gesünder sind als der Durchschnitt der Gesellschaft. Das liegt daran, dass sie im Schnitt jünger sind. Aber das gleicht sich mit der Aufenthaltsdauer an. Also im Laufe der Zeit passiert irgendwas. Die Frage ist, was passiert und warum?

Es gibt einige Hypothesen, die man überprüfen müsste. Ein möglicher Grund für die Verschlechterung ist, dass ein struktureller Ausschluss passiert – zum Beispiel über Sprachkenntnisse. Viele Migrant*innen gehen nicht zum Arzt, weil es einfach Sprachbarrieren gibt, die die Menschen selbst nicht überwinden können und die von Seiten der Gesundheitsinstitutionen nicht behoben werden.

Es lässt sich auch nachweisen, dass Menschen mit Migrationsbiografien gehäuft in Notfallstationen auftauchen. Und ein Notfall bedeutet: Es geht nicht mehr anders.  Warum werden Erkrankungen bei diesen Menschen nicht früher erkannt und behandelt? Warum profitieren diese Menschen nicht stärker von Präventionsmaßnahmen? Klar ist, dass vorhandene Vorerkrankungen, die nicht erkannt und behandelt werden, sich im Laufe der Zeit verschlimmern können.

Grundsätzlich fehlen uns aber die Daten, um Rassismus im deutschen Gesundheitssystem besser verstehen zu können. Es gibt einzelne Daten, vor allen Dingen in Bezug auf die psychischen Folgen von Rassismus. Es gibt, wie gesagt, auch einzelne Studien, die Migration und Gesundheit untersuchen. Aber repräsentative Daten dazu, wie sich Rassismus auf bestimmt Gruppen auswirkt und wie institutioneller Rassismus im Gesundheitswesen funktioniert – dazu gibt es kaum bis keine Daten.

 

Die oben genannten internationalen Studien weisen nach, dass rassifizierte Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status ein deutlich höheres Risiko haben, an Corona zu erkranken – warum wird über dieses Thema nicht viel mehr gesprochen?

Erstmal haben wir zu wenig Daten für den deutschen Kontext, um das eindeutig zu belegen. Das ist ein wichtiger Faktor. Dass es diese Daten nicht gibt, liegt daran, dass es in Deutschland generell zu wenig Rassismusforschung gibt. Und das hängt wiederum damit zusammen, dass in der Gesellschaft das Bewusstsein für Rassismus nicht besonders stark ausgeprägt ist. Wenn es um das Thema geht, finden Verschiebungen und Abwehrmechanismen statt. Es wird so getan, als wäre Rassismus irgendwas, das in der Vergangenheit liegt oder nur am rechten Rand oder in den USA vorkommt. Aber Rassismus wird in Deutschland nicht als etwas begriffen, das Gesellschaften strukturiert. Ich glaube, diese Verschiebungen und Abwehrhaltungen führen dazu, dass man sich bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge wie zum Beispiel den Zusammenhang von Rassismus und Ungleichheit und Ausbeutung nicht genauer anguckt.

 

Weil es kein umfassendes Verständnis von Rassismus gibt, fühlen sich Ärzt*innen verunsichert und denken, es sei ein Tabu, darüber zu sprechen, wenn sie beobachten, dass bestimmte Gruppen stärker von Corona betroffen sind.

Aber nein, es ist kein Tabu, darüber zu sprechen.

Die Frage ist doch, wie die Beobachtungen und internationalen Studien interpretiert werden. Wird das zum Beispiel krass verkürzt und als Beleg für fehlgeleitete Integration gewertet oder nicht? Als die Berliner Jugend trotz Corona in den Parks geraved hat, hat niemand von Parallelgesellschaften und fehlgeleiteter Integration gesprochen. Das heißt, das eigentliche Tabu ist, über Rassismus zu sprechen.

 

Lässt sich wissenschaftlich auf das Problem aufmerksam machen, ohne die Gefahr einzugehen, dass die betroffenen Menschen von Rechts zum Sündenbock der Pandemie gemacht werden?

Die Rechten thematisieren das so oder so. Die brauchen für ihre Behauptungen keine Datengrundlagen. Rassismus operiert nicht mit Daten und Fakten, sondern mit Imagination. Aber natürlich besteht ein Risiko, dass diese Daten instrumentalisiert oder missbraucht werden. Damit müssen wir umgehen und entsprechende Vorkehrungen treffen.

Aber ich würde daran festhalten, dass wir Daten brauchen, um gesellschaftliche Strukturen und Ungleichheitsverhältnisse sichtbar zu machen. Der Forschungsprozess ist dabei erst mal ergebnisoffen. Vielleicht kommen wir auch zu dem Schluss, dass es ausschließlich die Klasse der Menschen ist, die dazu führt, dass sie stärker von Corona betroffen sind. Oder vielleicht ist es die Markierung von Geschlecht. Wir müssen diese Problematik in seiner Intersektionalität denken. Anders werden wir keine vernünftigen Schlüsse daraus ziehen können. Als wissenschaftliche Institution sind wir dazu da, Mechanismen zu beschreiben und die zu verstehen.

 

In den USA und Großbritannien gibt es Studien, die die Benachteiligungen im Gesundheitssystem belegen – und trotzdem scheint das nicht direkt zu Verbesserungen zu führen. Warum glaubst du dennoch an die Notwendigkeit von Daten?

Gerade in Bezug auf Rassismus steht häufig der Vorwurf im Raum, es würde sich um bloße Behauptungen handeln. Das kann nicht so bleiben. Entsprechende Strukturen, Zusammenhänge und Auswirkungen müssen erforscht werden, um sie zu verstehen, aber auch, um Veränderungen herbeizuführen.

Ich glaube aber nicht, dass mehr wissenschaftliche Forschung alleine zu gesellschaftlichem Wandel führt. Das wäre ein Kurzschluss, der nicht funktioniert.

In Bezug auf gesellschaftlichen Wandel, ist Wissenschaft ein kleiner Teil.  Gesellschaftlicher Wandel ist vor allen Dingen auch eine politische Frage, und der Wandel wird von ganz unterschiedlichen Akteur*innen getragen. Die Wissenschaft kann Daten und Belege liefern. Das ist viel wert.

 

In der Pandemie geht es viel um den Schutz von vulnerablen Gruppen – warum werden arme Menschen mit Migrationsbiografien nicht als auch vulnerable Gruppen betrachtet, die besseren Schutz brauchen?

Ich glaube, das ist eine klare Frage von Macht und Herrschaftsverhältnissen. Diese Leute sind einfach durch ihre Positionierung im gesellschaftlichen Feld nicht in der Lage, Gesundheitsversorgung in gleichem Maße in Anspruch zu nehmen wie andere. Und sind deswegen auch in Bezug auf politische Akteur*innen keine Gruppe, die sichtbar ist. Und das ist vielleicht noch nicht mal eine bewusste Entscheidung von einzelnen Menschen – aber die Strukturen, die es gibt, führen dazu, dass diese Leute schlechter behandelt werden. Ich würde das als strukturelles Phänomen fassen.

Ein weiterer Aspekt sind die Gesundheitsinstitutionen. Wenn wir zum Beispiel auf die Gesundheitsämter und Krankenhäuser gucken – die scheinen mir überhaupt nicht vorbereitet zu sein für die Gesellschaft, in der wir leben. Es ist einfach krass, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben, aber die Institutionen völlig überfordert sind, wenn Leute kommen, die kein fließendes Deutsch sprechen. Ich glaube, das ist eines der Dinge, die die Politik angehen muss. Es braucht eine diversitätsorientierte, diskriminierungskritische Organisationsentwicklung für den ganzen Bereich der Gesundheitsversorgung. Ich begreife das als einen Professionalisierungsprozess. Die Institutionen können sonst im 21. Jahrhundert gar nicht mehr adäquat arbeiten, weil sie auf einen Teil der Bevölkerung gar nicht eingestellt sind. Von einer besser aufgestellten Gesundheitsversorgung profitieren alle, nicht nur Menschen, die von Rassismus betroffen sind und/oder aus der Arbeiter*innenschicht kommen. Es muss doch darum gehen, die Gesundheitsinstitutionen inklusiver zu gestalten und sie besser für alle zu machen.

 

Wie kann eine diversitätssensiblere, gerechtere und inklusivere Gesundheitsversorgung aussehen?

Ich würde das Thema ein bisschen größer machen. Wie gesagt, der sozioökonomische Status und die Gesundheit der Leute hängen zusammen. Das bedeutet, dass sich die Arbeitsbedingungen und die Wohnverhältnisse dieser Leute verbessern müssen – damit kann die Politik der Bevölkerung ein gesünderes Leben garantieren.

Und wenn man weiter reinzoomt, stellt sich dann auch die Frage: Was können die Institutionen – also Krankenhäuser, Gesundheitsämter – eigentlich selbst tun? Dabei ist eine diversere Personalpolitik eine Sache. Aber die alleine wäre viel zu kurz gegriffen und löst das Problem nicht. Es muss darum gehen, Verfahrensweisen, implizite und explizite Regeln, Verordnungen etc. in den Blick zu nehmen. Also alle Dinge, die eine Institution zusammenhalten, müssten auf den Prüfstand gestellt werden, um sie dann in einem zweiten Schritt inklusiver, pluraler und auch demokratischer auszugestalten. Beides sind längere Prozesse, und hängen natürlich auch miteinander zusammen.

 

Du hast jetzt von längeren Prozessen gesprochen. Wenn wir konkret auch im Zusammenhang mit der Pandemie Abhilfe schaffen wollen, welche kurz- und mittelfristigen Maßnahmen könnte es geben?

In den Gesundheitsinstitutionen braucht es flächendeckend Beschwerdestellen. Und diese Beschwerdestellen müssten mit einer gewissen Handlungsmacht ausgestattet sein. Das heißt, gemeldete Vergehen müssen sanktionierbar sein.

Außerdem braucht es in Krankenhäusern flächendeckend medizinisch geschulte Dolmetscher*innendienste – vor allem für die Intensivstationen.

Allgemein braucht es eine viel bessere Sensibilisierung und Bewusstwerdung von rassistischen Mechanismen und Strukturen, da diese ja auch ganz oft unbewusst ablaufen, aber trotzdem wirken.

Und natürlich braucht es mehr Forschung, mehr gesicherte Erkenntnisse.

Ich glaube, das sind Dinge, die man auch recht schnell auf die Beine stellen könnte.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Dr. Cihan Sinanoğlu ist Leiter der Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)