Mohammed Jouni ist Sozialarbeiter im Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Geflüchtete und Migrant*innen (BBZ) in Berlin. Er ist Mitbegründer der 2005 ins Leben gerufenen Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“, die sich für das Bleiberecht für alle und gegen Diskriminierung einsetzt. Er ist Vorstandsmitglied des Bundesverbandes unbegleiteter Minderjähriger und Schulpate. Als Empowerment-Trainer koordinierte er das Autor*innenkollektiv des Buchs „Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation: Erfahrungen junger Geflüchteter“.
Am 08. November 2021 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Was war deine Reaktion als du erfahren hast, dass dir für dein Engagement für ein Bleiberecht für alle und gegen Abschiebungen die Verdienstmedaille verliehen werden soll?
Es war ein Mix aus großer Freude, Überraschung, aber auch Überforderung. Ich habe ganz schnell an andere Menschen gedacht und mich gefragt, warum kriegen die das nicht und warum kriege ich das? Es war wirklich ein Mix an Gefühlen, aber es war auch Freude darüber, dass das gesehen wird, was ich mache und was wir als Gruppe machen.
Wie kam es zu deiner Entscheidung, die Auszeichnung anzunehmen, obwohl du auch Zweifel hattest?
Am selben Abend hatte ich schon den Gedanken: Kann ich das überhaupt annehmen? Es finden Koalitionsverhandlungen statt, wo auch Abschiebungen und das Konzept ‚Sichere Herkunftsländer‘ eine Rolle spielen werden. Es werden drei Parteien die Regierung bilden, die egal in welcher Konstellation sie an einer Landesregierung beteiligt sind, abschieben.
Dann habe ich mir aber gedacht: Das ist ja nicht für mich alleine. Es ist ja absurd eine Einzelperson auszuzeichnen, für etwas, was nur in einer Community, in einer Gruppe möglich ist. Ich nehme diese Auszeichnung ja auch für uns als Gruppe an. Und für alle Menschen, die sich antirassistisch einsetzen, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten und für eine Entkriminalisierung von Flucht und Geflüchteten einsetzen, die tagtäglich mit jugendlichen Geflüchteten zu tun haben. Und auch für die, die vielleicht manchmal als Einzelkämpfer*innen in Behörden sitzen oder in der Jugendhilfe arbeiten und denken, sie sind alleine in ihrem Kampf für eine bessere Aufnahmegesellschaft. Sie sollen wissen: was sie tun wird gesehen, es wird geehrt und wertgeschätzt. Und deswegen nehme ich die Verdienstmedaille auch an.
Dabei denke ich ganz besonders an das BBZ Beratungs- und Betreuungszentrum https://www.bbzberlin.de/de/, wo das alles angefangen hat. Kurz vor meinem Abitur kam ich als Ratsuchender zu ihnen. Ich hatte damals die Duldung und war akut von der Abschiebung bedroht. Meine Mitschüler*innen fingen an, sich für Praktika, Studium oder Auslandsjahr zu bewerben, während ich durch die Duldung Arbeitsverbot, Studienverbot und Ausbildungsverbot hatte. Ich wollte mich damals informieren, was denn jetzt nach der Schule ist. Der Sozialarbeiter Walid Chahrour machte mir damals in der Erstberatung klar, dass egal ob ich mein Abi mit 1,0 abschließe oder mit einer 4, das nicht maßgeblich dafür sein würde, ob ich studieren und in Deutschland bleiben dürfte oder nicht. Er hat mir aber auch klargemacht, dass ich nicht schuld daran bin, sondern politische Entscheidungen von Menschen, die keine Ahnung haben, was es heißt Geflüchtete*r in Deutschland zu sein, die noch nie in einem Abschiebeflug saßen, die noch nie in einem Lager gelebt haben. Und er hat mir klar gemacht, dass ich nicht alleine bin, dass es noch viele andere Jugendliche gibt, die auch davon betroffen sind. Im BBZ gab es eine Gruppe, die sich regelmäßig traf und sich darüber austauschte. Ich schloss mich dieser Gruppe an. 2005 gründeten wir gemeinsam „Jugendliche ohne Grenzen“. Bei Jugendliche ohne Grenzen habe ich eine empowernde Community gefunden, die sich nicht entlang gesellschaftlicher Konstrukte wie Herkunft, Hautfarbe, Religion, Gender, sexueller Orientierung usw. in „wir“ und „die Anderen“ formiert, sondern im Sinne von Audre Lorde diese Unterscheide erkennt, sie akzeptiert und feiert. Von Anfang an setzten wir uns für ein Bleiberecht für alle ein. Wir trafen uns dafür mit Politiker*innen, Pressevertreter*innen und Partner*innen. Auch auf unseren Druck hin wurde 2007 die sogenannte Altfallregelung beschlossen, die es Jugendlichen ermöglicht, ein Bleiberecht in Deutschland zu bekommen. Leider galt das nur für „gut integrierte“ Jugendliche mit einem Schulabschluss. Das hat uns aber motiviert, weiter zu machen und uns für eine Aufnahmegesellschaft und ein Bleiberecht für alle einzusetzen. Es ist eine gemeinsame Anstrengung, die jetzt auch geehrt wird und als Einzelperson steht es mir gar nicht zu, das abzulehnen.
Was erwartest du von der Bundesregierung als Reaktion darauf, dass dir die Verdienstmedaille verliehen wird? Welche Forderungen stellst du?
Es gibt einen Unterschied zwischen Erwartung und Hoffnung.
Die Auszeichnung kommt vom Bundespräsidenten. Ich hoffe, dass die zukünftige Bundesregierung das wahrnimmt. Selbst der Bundespräsident scheint ein Interesse an dem Thema zu haben und sieht eine strukturelle Diskriminierung von geflüchteten Jugendlichen. Er sieht, dass nicht alles in der Gesellschaft rund läuft. Er ehrt Menschen, die sich gegen diese Ungleichbehandlung, Ausschlüsse und Diskriminierung einsetzen.
Wir reden von europäischen Werten und Grundrechten. Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass die Kinderrechtskonvention konsequent umgesetzt wird. Jedes Kind, egal welcher Status, egal welche Nationalität, ob es behindert wird oder nicht, jedes Kind hat das Recht auf Essen, Trinken, Spielen, Perspektive, Respekt, Schule usw. Diese Kinderrechtskonvention ist in Deutschland zwar ratifiziert, trotzdem sehen wir täglich, dass hier dagegen verstoßen wird in den Lagern, in den sogenannten Ankerzentren. Wir sehen nach wie vor, dass Kinder und Jugendliche gar nicht oder zum Teil segregiert beschult werden.
Wenn die Koalitionspartner*innen ein Interesse daran haben, die Grundrechte und die Werte, von denen sie reden, praktisch umzusetzen, müssen sie etwas verändern. Das ist meine Hoffnung.
Meine Erwartung ist nicht pessimistisch, sondern realistisch. Tatsächlich erwarte ich von den Grünen, der SPD und auch von der FDP, dass sie verstehen, wir brauchen eine Kehrtwende. Diese Menschenrechtsverletzungen müssen gestoppt werden. Menschen brauchen eine Perspektive, sie brauchen keine Sanktionen und Angst. Sie müssen verstehen, dass Menschen nicht nach Deutschland fliehen wegen des schönen Wetters, sondern weil sie bedroht werden, weil wir dort Kriege führen, weil wir die Länder imperialistisch ausgebeutet und unterdrückt behandeln.
Es gibt eigentlich kein besseres Kompliment an die postkoloniale und postnationalsozialistische Gesellschaft, als Migration. Leute kommen hierher, weil sie Freiheit, Beteiligung und Demokratie erleben wollen. Das muss man wertschätzen und es muss sich in Gesetzen und politischen Entscheidungen widerspiegeln.
Also ein bisschen Hoffnung schwingt mit?
Auf jeden Fall! Wenn wir keine Hoffnung hätten, dann würden wir diese Arbeit nicht schon so lange machen. Die Hoffnung schöpfen wir auch daraus, dass etwas passiert, wenn auch langsam. Wir haben schon vieles erreicht. Wir haben erreicht, dass überhaupt über das Thema gesprochen wird, verbesserte Bleiberechtsregelungen, die Ausbildungsduldung. Aber wir sind noch sehr weit davon entfernt, dass Geflüchtete einen gleichberechtigten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, wie Arbeitsmarktzugang, Schule und Wohnungsmarkt haben.
Wir haben eine andere Haltung entwickelt. Wir sind keine Bittsteller, wir reden nicht über Integration, wir sind hier ein Teil der Gesellschaft, haben Rechte und die fordern wir ein.
Wir werden gehört, wir werden wahrgenommen, wir veröffentlichen, schreiben, es gibt Menschen, die uns zuhören, die das weitertragen, es gibt Strukturen, es gibt Projekte. Es bewegt sich was und wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass das kein Almosen von der Dominanzgesellschaft ist. Sondern es ist ein jahrzehntelanger Kampf von Menschen, die sich dafür eingesetzt haben. Das ist das Ergebnis von jahrzehntelanger antirassistischer Arbeit. Das gibt uns Hoffnung und Kraft dranzubleiben, auch wenn wir wissen, dass das nicht morgen oder übermorgen sein wird. Aber wenn wir nicht jetzt damit anfangen, wird niemals was daraus.
Wenn du darauf zurückblickst, was die Jugendliche ohne Grenzen seit 2005 erreicht hat, worauf bist du dann besonders stolz?
Es klingt jetzt vielleicht pathetisch, aber das meine ich völlig ernst: Es gibt die großen Sachen, die für die Öffentlichkeit sehr wichtig sind, wie große Konferenzen und Aktionen – wir zeichnen zum Beispiel den Abschiebeminister des Jahres aus. Das ist immer sehr groß und sehr schön. Aber was mich am meisten berührt und motiviert und mir den Glauben gibt, dass es einen Sinn hat, was wir tun, ist wenn ich beobachte, dass Jugendliche bei „Jugendliche ohne Grenzen“ und im BBZ einen Raum gestalten, wo sie sich nicht rechtfertigen müssen und wo sie sich mit anderen empowern. Über solche Empowermenträume wird nicht so viel gesprochen. Aber das ist der Kern der Arbeit.
Natürlich brauchen wir Bleiberechtsregeln; besser heute als morgen. Wir brauchen aber auch langfristig Empowermenträume. Ich habe inzwischen den deutschen Pass, aber das heißt ja nicht, dass an dem Tag, an dem ich eingebürgert wurde, meine Rassismuserfahrungen aufhören. Wir brauchen kurzfristig die rechtliche Absicherung und langfristig Empowermenträume.
Vielen Dank für das Gespräch, lieber Mohammed!