Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mein Kind zu verlieren. Erst recht plötzlich, unerwartet, grundlos, obendrein durch einen gewaltsamen Tod. Ermordet von einem Rassisten.
Die neun jungen Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau erschossen wurden, waren Söhne und Töchter, Geschwister, geliebte Mitglieder ihrer Familien. Zwei von ihnen hatten selbst Kinder. Sie waren Hanauer*innen, aus kurdischen, türkischen, bosnischen und afghanischen Familien; drei von ihnen waren Romni aus Deutschland, Bulgarien und Rumänien. Sie waren an jenem Abend unterwegs, um ihre Freunde zu treffen, in einer Shisha-Bar und einem Kiosk. Da, wo man hingeht, wenn man wenig Geld hat und aus einer migrantischen Community kommt. Allerdings: die meisten Opfer waren Deutsche, geboren und aufgewachsen nahe Hanau; sie sprachen deutsch mit hessischem Akzent. Junge BPoC1-Hanauer*innen.
Angriff im Safe Space
Es ist kein Zufall, dass der rechtsextreme Täter seine Opfer in einer Shisha-Bar antraf. Er ging strategisch vor, wie der Generalbundesanwalt später konstatierte; ihm war klar, wo er potenzielle Opfer antreffen würde: Shisha-Bars gehören zu den wenigen Freizeitstätten, wo junge Männer aus migrantischen Familien problemlos Einlass bekommen. In vielen anderen Orten ist das leider nicht so. Alltagsrassismus beeinflusst oft das Leben von Menschen aus Einwanderer-Communitys. Um Konfrontationen zu vermeiden, geht man halt in Orte wie Shisha-Bars, wo man auch willkommen ist, wenn man Ferhat oder Fatih heißt.
Als Zielscheibe markiert
Shisha-Bars werden jedoch von manchen Politiker*innen sowie rechtslastigen und populistischen Medien pauschal als ein Hort krimineller Machenschaften bezeichnet. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul beispielweise lässt gerne nächtliche Razzien in Shisha-Bars durchführen, bei denen er persönlich anwesend ist – und die Presse natürlich auch. So kann man sich gut als Law-and-Order-Politiker inszenieren. Dabei gerät völlig in den Hintergrund, dass in der Regel bei diesen Razzien gar keine Verbrechen zutage kommen.
Doch so werden Shisha-Bars in der Öffentlichkeit deutlich markiert: Hier treffen sich die Kriminellen. Dieser Ruf kriminalisiert somit diejenigen, die dort hingehen: BPoC-Menschen, oft junge Männer, oft muslimisch. Die Kriminalisierung dieser Freizeit-Treffpunkte ist eine weitere Manifestation von anti-muslimischem Rassismus, der viel zu oft nicht erkannt und viel zu selten bekämpft wird.
Aber Rechtsradikale verstehen die Message laut und deutlich. So auch der Attentäter von Hanau, rechtsextremer Rassist und trotzdem legal im Besitz von Waffen.
Legale Waffen für Rechtsextreme
Dies ist eine Frage, die ich am zweiten Jahrestag des Attentats stellen möchte: Warum dürfen in diesem Land Rechtsradikale legal Waffen besitzen? Leute, die Mitglieder in rechtsextremen Vereinigungen sind? Wer als Jäger oder Sportschütze ein sogenanntes „Bedürfnis nach Waffen“ nachweist, kann eine Waffenbesitzkarte beantragen. Liegen keine einschlägigen strafrechtlichen Eintragungen oder Zweifel an der psychischen Eignung für den Waffenbesitz vor, darf sich der Antragsteller legal bewaffnen. Die zuständigen Behörden prüfen die sogenannte „charakterliche Eignung“ nicht besonders gründlich – etwa durch eine Nachfrage beim Verfassungsschutz, die eigentlich Routine sein sollte. Hinzu kommt, dass viele Rechtsradikale gar nicht vom Verfassungsschutz erfasst sind.
Die Zahl der Rechtsextremist*innen mit Waffenerlaubnis ist im Jahr 2020 deutlich angestiegen. Die Sicherheitsbehörden hatten Ende Dezember bundesweit rund 1200 tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremisten auf dem Schirm, die legal Waffen besaßen. Das heißt, von 2019 bis 2021 stieg der legale Waffenbesitz in der rechten Szene um 35 Prozent2.
Waffen in den Händen von Rechtsextremen bedeutet eine permanente Gefährdung von Jüd*innen, BPoC und Migrant*innen. Diese Entwicklung dürfen wir als Gesamtgesellschaft nicht einfach als unvermeidlich hinnehmen, auch im Gedenken an die Ermordeten von Hanau. Die Regierung ist sich dessen bewusst: Die neue Innenministerin Nancy Faeser hat angekündigt, bis Ostern einen Plan zur Bekämpfung des Rechtsterrorismus vorzulegen. Es ist allerhöchste Zeit dafür.
Normalisierung des Gefährlichen
Aber es geht nicht nur um die extremen Ränder der Gesellschaft, sondern auch um das, was sich in der Mitte verschiebt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. In der Pandemie sind zwei Dinge zutage getreten:
Zum einen, dass eine bemerkenswert große Zahl von Menschen bereit ist, mit Neonazis gemeinsame Sache zu machen, um gegen Covid-Maßnahmen zu protestieren.
Und zum anderen, dass es eine Reihe Politiker*innen und Medienhäuser gibt, die mit diesen rechtsoffenen Menschen Gespräche führen und ihnen eine Plattform bieten. Dies normalisiert rechtsradikale Haltungen, weil sie nicht geächtet, sondern als „Sorgen und Nöte“ normaler Bürger*innen verharmlost werden. Selbst der ehemalige AfD-Politiker Jörg Meuthen gilt als „gemäßigt“3. Das ist absurd. Es gibt keinen gemäßigten Rassismus.
Aufklärung, Gerechtigkeit, Konsequenzen?
Die Überlebenden und Familien der Opfer gründeten nach dem Attentat die „Initiative 19. Februar Hanau“, damit die Ermordeten der Öffentlichkeit bekannt wurden; sie fordern unermüdlich Aufklärung, sie fordern Gerechtigkeit, sie fordern Konsequenzen.
Das ist nicht nur für die Hanauer*innen wichtig, sondern für uns alle in diesem Land. Die Menschenrechte sind Grundlage unserer Gesellschaft. Wenn Minderheiten diskriminiert werden, geht dies gegen unser gemeinsames Selbstverständnis und belastet den sozialen Frieden für alle. Wir dürfen Alltagsrassismus nicht einfach hinnehmen, weder in Schulen, noch bei der Arbeitssuche oder auf dem Wohnungsmarkt.
Die Konsequenzen aus dem Attentat in Hanau zu ziehen bedeutet: wir müssen uns für eine diskriminierungsfreie und antirassistische Gesellschaft einsetzen. Damit wir alle besser und friedlicher leben können. Das sind wir denen schuldig, die durch den Rassismus eines Einzelnen ihr Leben verloren haben.
#SayTheirNames: In Gedenken an Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Said Nesar, Sedat und Vili.
Link:
Initiative 19.Februar Hanau
1 BPoC: Black/Person of Color
2 Bundesregierung, in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion