“Die Ungleichbehandlung der Geflüchteten haben wir von Anfang an als sehr verstörend wahrgenommen“

Die Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten schrumpft in manchen osteuropäischen Ländern wie Ungarn und Tschechien, das zeigt eine neue Studie der Stiftung Mercator und der TU Dresden. Für Ostdeutschland wird eine ähnliche Entwicklung attestiert. Wir haben mit Natalia Roesler, Geschäftsführerin von Club Dialog, einem Verein russischsprachiger Berliner*innen, der Geflüchteten aus der Ukraine hilft, darüber gesprochen, ob sie eine Abnahme der Solidarität beobachtet, was die gegenwärtig größten Bedarfe der Geflüchteten sind und wie Interessierte bei der Hilfe unterstützen können.

Landkarte mit Stacheldraht

Eine neue Studie der Stiftung Mercator und der TU Dresden zeigt, dass die Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten in osteuropäischen Ländern wie Ungarn und Tschechien bereits schrumpft. Für Ostdeutschland wird eine ähnliche Entwicklung attestiert. Merken Sie, dass die Solidarität mit den Ukrainer*innen bröckelt?

Wir als eine soziale helfende Organisation mit vielen Projekten für die Menschen aus der Ukraine bewegen uns natürlich in einer eigenen „Informationsblase“, uns kommt es natürlich vor, als ob die Solidarität gleich bleibt – wir haben nach wie vor viele Menschen, die helfen wollen, und erfahren viel Unterstützung für unsere Arbeit. Allerdings, wenn wir von unserer Situation abstrahieren und breiter auf die Sache schauen, denke ich, dass man hier das Verhältnis zu „Ukrainern“ von dem Verhältnis zu dem Krieg insgesamt trennen muss. Die Geflüchteten erfahren nach wie vor viel Unterstützung – vor allem, wenn man weiß, was gerade in ihrer Heimat passiert und welche Verbrechen die russische Armee dort verübt. Das Verhältnis zu dem Krieg selbst ist in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich. Wenn Menschen mit dem Krieg in der Ukraine die eigenen Einschränkungen in der Lebensqualität (hohe Preise, Inflation, Energiekosten) verbinden, setzt sich eine gewisse „Kriegsmüdigkeit“ ein. Auch ein trügerischer Schluss ist – „wenn die Ukraine endlich aufgeben würde, würde es uns allen besser gehen“, was natürlich falsch ist.

Im Laufe des Jahres verschärfte sich zum Teil auch die politische Rhetorik. CDU-Chef Friedrich Merz bezichtigte Geflüchtete aus der Ukraine des „Sozialtourismus“. Er entschuldigte sich nach heftiger Kritik. Wie haben die geflüchteten Menschen die Aussage wahrgenommen?

Die geflüchteten Menschen wissen noch nicht so richtig, wer Friedrich März ist, und lesen auch kaum deutschsprachige Medien – sie konnten es natürlich nicht aus der ersten Quelle erfahren. Was allerdings passierte ist, dass die pro-russische Propaganda die Aussage natürlich für eigene Zwecke benutzt hat und sie in mehreren russischsprachigen und auch ukrainischsprachigen Kanälen verbreitet hat. Aus diesen mittelbaren Quellen haben die Menschen darüber auch erfahren. Das hat der Sache allgemein nicht gutgetan. Wir haben mit vielen Menschen aus der Ukraine gearbeitet – was an ihnen wirklich nicht vorwerfen kann, ist „Sozialtourismus“. Sie fliehen vor Not und Elend in ihrer Heimat. Die Menschen, die ganz am Anfang gekommen sind, wussten sogar gar nicht, dass ihnen irgendwelche Sozialleistungen zustehen würden. Auf die Hilfsbereitschaft der Menschen hier bei uns machen solche Aussagen wie die von Herrn März wenig Eindruck, da die Helfer die Ukrainer in der Regel besser kennen, als er.

Der Verein Club Dialog existiert seit 1988 in Berlin. Er ist die größte Organisation russischsprachiger Menschen verschiedener Herkunft. Seit Ausbruch des Krieges unterstützt und berät der Verein ukrainische Geflüchtete. Gab es in der Community anfänglich Bedenken, die Unterstützung aufzunehmen?

Der Verein ist ursprünglich gegründet worden für alle Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Wir haben viele MitarbeiterInnen, die auch aus der Ukraine, aber auch aus anderen Ländern stammen. Wir arbeiten mit Menschen aus der Ukraine seit langem – nicht nur seit Beginn des Krieges – etwa in solchen Projekten, wie solchen zur Anerkennung beruflicher Anschlüsse. Seit Februar 2022 hat sich die Zahl  unserer Projekte für die Ukrainer*innen vergrößert, wir haben alle unseren Unterlagen für Ratsuchende in Ukrainisch übersetzt, die Informationen in Social Media werden auch auf Ukrainisch verbreitet und auch die BeraterInnen sprechen die Sprache. Nichtsdestotrotz gibt es ein Teil der ukrainischen Community, die mit uns nicht arbeiten möchte, weil wir für sie „Russen“ sind – das ist uns bewusst. Wir finden es verständlich. Russland hat dem ukrainischen Volk ein großes Leid angetan.

Die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten gilt als vorbildlich. Allerdings wurde schnell rassistische Diskriminierung von nicht-weißen Geflüchteten bekannt. Wie wirkt sich die Ungleichbehandlung der Menschen auf Ihre Arbeit aus?


Die Ungleichbehandlung der Geflüchteten haben wir von Anfang an als sehr verstörend wahrgenommen – obwohl wir natürlich über die ganzen gesetzlichen Gründe dafür von den Behörden informiert worden sind. Es ist allerdings in der Beratungspraxis schwer – wenn zwei Menschen vor dir sitzen, die auch zum Beispiel befreundet sind und zusammen studiert haben, und der eine mit dem ukrainischen Pass und der andere mit einem anderen. Vor allem wurden in diesem Zusammenhang Menschen afrikanischer Herkunft, Roma und Menschen aus solchen Ländern wie um Beispiel Indien, Iran etc. diskriminiert. Wir kennen zum Glück einige Organisationen, die solchen Menschen helfen und haben die Ratsuchende dorthin geschickt.

Ein anderes Problem war für uns allerdings – das negative Verhältnis anderer Zuwander*innen zu Ukrainern – aus dem Grund, dass ihnen alles „zu leicht“ gefallen ist. Wir haben leider viele Aussagen von der Art „Wir haben mehrere Jahre dafür gekämpft, hier leben und arbeiten zu dürfen und die beklommen aller sofort…“ uns anhören müssen. Da weiß man als beratende Organisation leiden, nicht so genau, wie man da reagieren soll.

Was sind momentan die größten Bedarfe der Menschen, die Sie unterstützen?

Die großen Bedarfe der Geflüchteten liegen nach wie vor in Bereich Wohnungssuche. Die Aufnahmekapazitäten in Berlin sind komplett ausgeschöpft, es kommen aber immer noch bis zu 200 Menschen pro Tag. Ein wichtiger Punkt ist die Arbeitsmarktintegration. Wir wissen, dass über 52 Prozent der Zugewanderten in Deutschland länger bleiben wollen. Sie versuchen sich hier momentan auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Die dritte große Baustelle ist die Beschulung der Kinder – viele haben trotz Schulpflicht immer noch keinen Platz in einer Schule bekommen.

Viele der Hilfesuchenden sind Frauen. Welchen Hürden begegnen sie beim Zugang zum Arbeitsmarkt? Bekommen sie Jobs, die Ihren Qualifikationen entsprechen?

Die meisten Geflüchteten sind Frauen, zu 80 Prozent mit Hochschulabschluss und sehr oft im Bereich reglementierte Berufe, das heißt es gibt sehr viele Pädagoginnen, medizinisches Personal, Psychologinnen, Juristinnen unter ihnen. Um in diesen Berufen zu arbeiten, brauchen sie eine lange Integration – Sprachkenntnisse, Anerkennungen etc. – das ist schade. Trotzdem suchen und finden viele von ihnen Arbeit. Ca. 30 Prozent haben schon Arbeit gefunden – allerdings unter ihrem Qualifikationsniveau. Vor allem in den ersten Monaten haben wir auch vereinzelt Berichte über Ausbeutung gehört – viele Neuankommenden wussten nichts über ihre Rechte und Möglichkeiten. Sie hatten damals nicht mal eine Arbeitserlaubnis und dachten, sie müssen unbedingt sofort arbeiten, weil sie sonst nichts zu Essen und kein Dach über dem Kopf bekommen. Das ist natürlich eine sehr bequeme Situation für unlautere „Jobangebote“. Wir hatten auch Berichte über sexuelle Ausbeutung. Inzwischen ist die Situation allerdings besser geworden – dank vieler Beratungsangebote, die es für die Ukrainerinnen gibt und auch dank ihrer Überführung in das SGB-System (Jobcenter, Arbeitserlaubnis etc.).

Sie betreuen auch unbegleitete Kinder und Jugendliche. Welche besonderen Bedarfe hat diese Gruppe?

Zuerst dachten wir, es kommen nicht so viele unbegleitete Minderjährige nach Deutschland. Wir haben uns geirrt – es kamen viel mehr als erwartet. Dabei waren es meistens zwar „begleitete“, aber nach dem deutschen Recht trotzdem „unbegleitete“ Kinder und Jugendliche. Das heißt, dass zum Beispiel eine Mutter mit sieben Kindern kam, von denen nur drei von ihr waren, die anderen von Verwandten oder Bekannten. Die Vollmachten hat man natürlich in den stressigen Situationen nicht immer übergaben. Es kamen aber auch viele ganz unbegleitete Jugendliche – zum Beispiel im Alten vor 16-18, denen man bereits zutraute, alleine zu den Bekannten oder Verwandten nach Deutschland zu fahren. Wie groß die Gruppe insgesamt ist, kann ich nicht sagen. Ich kann sagen, dass es an mehreren Monaten bis zu 1500 solcher Personen jeden Tag in Berlin ankamen, viele sind natürlich weitergereist. Vor allem brauchten die Jugendlichen und Kinder dann natürlich eine Unterkunft oder sichere Begleitung zum potenziellen Wohnort. Es erwartet sie das gesamte Prozedere – Minderjährige müssen einen Betreuer oder Vormund haben etc. und dann die Integration in die das System der Jugendhilfe durchlaufen.

Welche weitere Unterstützung wünschen sie sich von der Politik?

Hier muss ich wirklich sagen, dass wir von der Politik auch viel Unterstützung in diesem Jahr erfahren haben. Man hat versucht, möglichst schnell zu handeln. Wir wünschen uns, dass diese Unterstützung nicht nachlässt, da wir denken, dass die Problematiken noch lange bleiben wird, selbst wenn nicht so viele Menschen neu kommen. Nach der ersten Aufnahme müssen die Menschen nun weiter betreut und beraten werden. Vor allem hoffen wir auf weitere Schritte der Erleichterungen in der Arbeitsmarktintegration zum Beispiel bei der Anerkennung beruflicher Anschlüsse, und der Aufrechterhaltung und Erweiterung der Beratungsangebote.

Wir haben auch in diesem Jahr gesehen, dass vieles, was in der Aufnahme- und Integrationspolitik früher als „unmöglich“ galt, plötzlich möglich wurde. Wir hoffen deswegen, dass viele Vereinfachungen und Erleichterungen der Prozesse, die jetzt mit Ukrainern gemacht wurden und die sich bewährt haben, auf die anderen Gruppen der ZuwanderInenn ausgeweitet werden.

Wie können Interessierte die Arbeit Ihres Vereins unterstützen? Welche Hilfe wird benötigt?

Wir brauchen immer Ehrenamtliche, die sich in unterschiedliche Bereichen engagieren wollen – wir haben zum Beispiel aktuelle auch das Thema Begleitung der Senioren aus der Ukraine, aber auch Betreuung unterschiedlichen Selbsthilfegruppen etc. Wir haben auch ein Patenschaftsprojekt – wir suchen für einzelne Personen und Familien Paten, die ihnen in alltäglichen Dingen helfen können. Momentan haben wir mehr Ratsuchende als potenzielle Paten. Wir verteilen auch kleinere Sachspenden – vor allem im Bereich Bücher, Schreibwaren und andere Schulsachen an die Kinder in unserem Jugendzentrum. Wenn jemand die Möglichkeit hätte, Kinderbücher in Ukrainisch zu besorgen, wäre es eine schöne Sache. Wir suchen Personen, die Kindern und Jugendlichen ehrenamtlich Deutsch unterrichten könnten.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Natalia Roesler! 

 

Natalia Roesler ist Geschäftsführerin bei Club Dialog e.V. – einer der ältesten MigrantInnenorgansationen Berlins. CLUB DIALOG e.V. wurde 1988 in Berlin gegründet, um den gesellschaftlichen Dialog zwischen russischsprachigen und einheimischen Berlinerinnen und Berlinern anzuregen, und die Integration der Einwanderer*innen zu fördern. Im Laufe von drei Jahrzehnten hat Club Dialog eine Struktur aufgebaut, die eine umfassende nationenübergreifende Integrations- und Bildungsarbeit in mehreren Sprachen und für alle Generationen ermöglicht. Darüber hinaus ist Natalia Roesler Vorstandssprecherin im Bundesverband russischsprachiger Eltern und im Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen (bbt e.V.).

Das Interview führte Nasiha Ahyoud für die ndo