Widersprüche der EU-Mobilität: Migration, Grenzen und Menschenrechte

Seit September 2024 hat Deutschland an allen neun Nachbargrenzen wieder Grenzkontrollen eingeführt. Die offizielle Begründung: Irreguläre Migration und Sicherheitsbedrohungen. Diese Maßnahme, die darauf abzielt, die Migration zu kontrollieren, beschneidet das Prinzip der Freizügigkeit, das durch das Schengener Abkommen geregelt ist, und einen Grundpfeiler der europäischen Integration bildet.

Die Auswirkungen dieser aktuellen Kontrollen sind bereits spürbar, sie gefährden die Ausübung der Menschenrechte. Viele Geflüchtete und Migrant*innen sind vermehrt Pushbacks ausgesetzt und bekommen kein rechtmäßiges Asylverfahren. Dieses Vorgehen hat weitreichende Folgen für die europäische Solidarität und Kooperation. 

Dieses Vorgehen rückt einmal mehr die Widersprüche der EU-Charta der Grundrechte/EU-Verfassung in den Fokus, da die so praktizierte Mehrebenen-Governance in Fragen der Migration und Mobilität die Widersprüchlichkeit zwischen den vermeintlichen Kernwerten der EU – wie den Menschenrechten – und der zentralen Gesetzgebung im Prozess der europäischen Integration aufzeigt. 

Dabei wurde mit dem Freizügigkeitsprinzip der Europäischen Union von Beginn an zwischen Bürger*innen der EU-Mitgliedsstaaten und sogenannten Drittstaaten unterschieden.
Gleichzeitig erweist sich genau diese Unterscheidung als paradox, da nationale Gesetzgebung und regionale Abkommen immer wieder neu verhandelt und überarbeitet werden. 

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten ziehen ständig neue Grenzen, ändern bestehende Grenzen oder beseitigen einige. Da die interne Konsolidierung von Territorien, die mit dem Aufbau von Staaten verbunden ist, von Maßnahmen zur Regulierung des Zugangs zu diesem Territorium begleitet wurde, kann diese Widersprüchlichkeit als eine EU-weite Spiegelung von Reaktionen auf Migration und Bevölkerungskontrolle betrachtet werden, die auf Staatsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts zurückgeht. 1 

Nicht nur beobachten wir zunehmende Diskriminierung und Racial Profiling an den internen Schengen-Grenzen, an denen Grenzkontrollen eigentlich seit Jahren weitestgehend abgeschafft wurden. Betroffen sind hier insbesondere Nicht-EU-Bürger*innen afrikanischer, westasiatischer oder südasiatischer Herkunft. Es ist zudem wichtig zu beachten, dass das Freizügigkeitsprinzip selbst unter Bürger*innen der Mitgliedsstaaten ungleich angewendet wird. 

Roma- und Sinti-Communities haben in vielen EU-Ländern, insbesondere in Italien und Frankreich, erhebliche Diskriminierung erfahren- Hier sind sie verstärkt von Abschiebungen betroffen und werden systematisch von sozialen Leistungen ausgeschlossen, die ihnen als EU-Bürger*innen zustehen sollten: 2008 führte die italienische Regierung das sogenannte Nomadennotstandsgesetz ein, das einen Notstand in mehreren italienischen Regionen bedingte und den lokalen Behörden weitreichende Befugnisse erteilte, gegen Roma- und Sinti-Gemeinschaften vorzugehen. Bis zu seiner Aufhebung durch den Obersten Gerichtshof 2013, bot das Gesetz die rechtliche Grundlage für Zwangsräumungen, die Identifikation per Fingerabdruck, auch von Kindern, sowie strengere Überwachungs- und Polizeimaßnahmen, die auf die Abschiebung italienischer und nicht-italienischer Roma-EU-Bürger*innen abzielten.2 

Arbeiter*innen aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten, insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, wurden ebenfalls rassistischer Berichterstattung und Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt, häufig als „Sozialtourist*innen“ oder „Wirtschaftsmigrant*innen“ dargestellt, insbesondere in Ländern wie Großbritannien, Deutschland und Spanien. Die Doppelmoral dieser Einstellungen zeigte sich deutlich, während der COVID-Krise, als der daraus resultierende Arbeitskräftemangel in wichtigen Bereichen wie der Landwirtschaft den deutschen Cash-Crop-Anbau fast zum Stillstand brachte. 

Um das Paradoxon der EU-Grenzen mittels dieser und anderer Beispiele besser zu verstehen, muss man die zentrale Rolle der Arbeit als Impuls für die Schaffung des europäischen Binnenmarktes berücksichtigen, dessen Bedürfnisse seit dem Römischen Vertrag von 1957 durch die freie Mobilität der Arbeitnehmer*innen gedeckt werden sollten. Doch Arbeit kann nicht von den Menschen getrennt werden, die sie verrichten Das stellt eine Herausforderung für die europäische Identität dar, die historisch entlang der Parameter von Race, Religion und Klasse definiert wurde. Tatsächlich belegt die ständige Neukonfiguration der internen und externen Grenzen der EU eine Definition von Rechten, Privilegien und Zugang zu Ressourcen, die mit bestimmten demografischen Gruppen im Blick formuliert wurden. 

Quellen:
1. Geddes, A., Hadj-Abdou,, L., Brumat, L., 2020: Migration and mobility in the European Union, London: Red Globe Press 
2. Hepworth, K., 2015: Abject Citizens: Nomad Emergencies and the Deportability of Romanian Roma. In: At the Edges of Citizenship: Security and the Constitution of Non-citizen Subjects (1st ed.). Routledge.