Terroranschläge wie der in Halle haben eine fatale Signalwirkung für Jüd*innen: „Die Mitglieder unserer Gemeinde hatten nach dem Anschlag in Halle monatelang Angst, in die Synagoge zu kommen. Wir haben Gespräche mit einem Psychologen für die Menschen organisiert, damit sie über diese Angst sprechen können. Mittlerweile haben wir Polizeischutz bekommen, seitdem fühlen sich die Menschen wieder sicherer“, erzählt Alexander Wassermann, der seit 2001 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Dessau ist.
Seit der Kritik, dass die Synagoge in Halle selbst am höchsten jüdischen Feiertag nicht unter Polizeischutz stand, haben nach einer Recherche des Mediendiensts Integration fast alle Bundesländer jüdischen Einrichtungen zusätzliche Gelder zur besseren Sicherung ihrer Gebäude bereitgestellt, parallel dazu wurden in fast allen Bundesländern jüdische Einrichtungen von der Polizei stärker bewacht.
Monty Ott, Vorsitzender von Keshet, einer jungen, queer jüdischen Initiative, sieht die Polizei nicht nur als Heilsbringer: „Für Jüd*innen in Deutschland ist die Polizei in einem Doppelverhältnis zu sehen: Es sind auf der einen Seite die Menschen, die unsere Sicherheit gewährleisten sollen – auf der anderen Seite sind die antisemitischen und rechtsextremen Umtriebe bei der Polizei bekannt. Das löst ein massives Unsicherheitsgefühl aus.“
Ott fordert, dass Strafverfolgungsbehörden flächendeckend über Antisemitismus und Rassismus aufgeklärt und dafür sensibilisiert werden: „Es gibt eine Intersektionalität der Ideologien – diese gesellschaftlichen Probleme müssen zusammen betrachtet und zusammen gelöst werden. Der Attentäter von Halle war zum Beispiel nicht nur Antisemit und Rassist, sondern auch ein Sexist – das wird aus seinen Aussagen vor Gericht deutlich“, so Ott.
Entsprechend war es kein Zufall, dass der Attentäter aus Frust darüber, dass er nicht in die Synagoge eindringen konnte, erst eine Passantin tötete und dann in einen nahe gelegenen Döner-Imbiss lief und einen jungen Mann erschoss: „Die Synagoge und der Döner-Imbiss als Anschlagsorte zeigen, wie eng verwoben antisemitische und rassistische Verschwörungstheorien sind: Der Täter fantasierte, dass er sich gegen eine muslimische Massenmigration wehren müsse, für die er Jüd*innen verantwortlich macht. Was wir in Halle beobachten konnten, ist auch, wie gefährlich Verschwörungstheorien sind, und dass dagegen viel früher strafrechtlich vorgegangen werden muss“, so die Vorsitzende der neuen deutschen organisationen, Ferda Ataman.
Mehr Polizei und strafrechtliche Verfolgung alleine können das Problem nicht lösen: „Es braucht die ganz klare Unterstützung und Solidarität aus der Mitte der Gesellschaft: Es sind die vielen stillen Helfer*innen aus Familie und sozialem Umfeld, die mindestens stillschweigend Rassismus, Antisemitismus und weitere Phänomene im Alltag dulden, heimlich zustimmen oder ignorieren, wenn jemand solchem Gedankengut folgt – wie es der Täter von Halle tat. Dem muss auf allen Ebenen entgegengetreten werden. Für das Land Sachsen-Anhalt braucht es dringend Sofortmaßnahmen der Landesregierung gegen Rassismus und Antisemitismus sowie die Einsetzung einer Enquete-Kommission unter Einbeziehung der von Rassismus und Antisemitismus Betroffenen“, so Mamad Mohamad, Geschäftsführer des Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt e.V. (LAMSA).
Demonstrationsaufruf:
Gemeinsam mit LAMSA rufen wir alle Menschen dazu auf, zum ersten Jahrestag des rassistischen und antisemitischen Anschlags nach Halle zu kommen:
Wann: Freitag, den 09. Oktober 2020, 12:00 Uhr
Wo: Marktplatz in Halle (Saale)